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Türkisches Gambit

Türkisches Gambit

Titel: Türkisches Gambit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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einmal. In Ruhe beendete er die Besichtigung von Warjas Figur, dann wandte er den Kopf zu Fandorin und sagte halblaut mit Schauspielerstimme: »Ich weiß, Asasel. Sobolew hat ihn soeben auch erwähnt.«
    Er setzte sich an den Schreibtisch und nickte Misinow zu.
    »Fang an. Michail Alexandrowitsch und ich hören zu.«
    Er könnte ja einer Dame einen Stuhl anbieten, auch wenn er Imperator ist, dachte Warja mißbilligend und ließ den Glauben an das monarchistische Prinzip endgültig und unwiederbringlich fahren.
    »Wieviel Zeit habe ich?« fragte der General ehrerbietig. »Ich weiß, Majestät, wie sehr Sie heute beschäftigt sind. Und die Helden von Plewna warten.«
    »Es ist soviel Zeit, wie gebraucht wird. Das ist ja nicht nur eine strategische, sondern auch eine diplomatische Frage«, dröhnte der Imperator und warf einen freundlichen Blick auf Kortschakow. »Michail Alexandrowitsch ist extra aus Bukarest gekommen, hat die alten Knochen in der Kutsche durchrütteln lassen.«
    Der Fürst verzog den Mund zu einem Lächeln ohne das geringste Anzeichen von Heiterkeit, und Warja entsann sich, daß den Kanzler vor Jahresfrist eine persönliche Tragödie getroffen hatte – sein Sohn oder sein Enkel war gestorben.
    »Seien Sie mir nicht gram, Lawrenti Arkadjewitsch«, sagte der Kanzler mit trauriger Stimme. »Ich hege Zweifel. Das ist gar zu abenteuerlich, selbst für Herrn Disraeli. Und die Helden können warten. Das Warten auf eine Auszeichnung ist der angenehmste Zeitvertreib. Also reden Sie, wir sind ganz Ohr.«
    Misinow reckte schneidig die Schultern und wandte sich überraschend nicht an Fandorin, sondern an Warja: »Frau Suworowa, erzählen Sie ausführlich von Ihren beiden Begegnungen mit dem Korrespondenten der ›Daily Post‹, James MacLaughlin – während des dritten Sturmangriffs auf Plewna und vor dem Ausbruch Osman Paschas.«
    Warum nicht – Warja erzählte.
    Der Zar und der Kanzler verstanden zuzuhören, wie sich herausstellte. Kortschakow unterbrach sie nur zweimal.
    Das erste Mal: »Was für ein Graf Surow? Etwa der Sohn von Alexander Platonowitsch?«
    Das zweite Mal: »Also, MacLaughlin und Ganezki waren gut miteinander bekannt, wenn er ihn mit Vor- und Vatersnamen anredete?«
    Der Imperator schlug gereizt mit der flachen Hand auf den Tisch, als Warja davon sprach, daß viele Journalisten sich in Plewna Informanten zugelegt hatten.
    »Du hast mir noch nicht erklärt, Misinow, wie es kam, daß Osman seine ganze Armee zusammenziehen konnte, ohne daß deine Spione es meldeten.«
    Der Chef der Gendarmerie machte aufgeregt Anstalten, sich zu rechtfertigen, aber Alexander winkte ab.
    »Später. Sprich weiter, Suworowa.«
    »Sprich weiter« – wie finde ich das? Selbst in der ersten Klasse bin ich mit »Sie« angeredet worden. Warja machte eine demonstrative Pause, brachte dann aber doch ihre Erzählung zu Ende.
    »Ich glaube, das Bild ist jetzt klar«, sagte der Zar mit einem Blick auf Kortschakow. »Schuwalow soll eine Note vorbereiten.«
    »Ich bin nicht sicher«, antwortete der Kanzler. »Hören wir die Schlußfolgerungen des ehrenwerten Lawrenti Arkadjewitsch.«
    Warja bemühte sich vergeblich, zu verstehen, weshalb es zwischen dem Imperator und seinem obersten diplomatischen Berater eine Unstimmigkeit gab. Misinow schaffte Klarheit.
    Er entnahm dem Ärmelaufschlag ein paar Papierblätter, räusperte sich und sprach wie ein Streber in der Schule:
    »Wenn Sie gestatten, komme ich vom Besonderen zum Allgemeinen. Also. Vor allem muß ich mich schuldig bekennen. Während der ganzen Zeit, in der die Armee Plewna belagerte, agierte gegen uns ein listiger, grausamer Feind, den mein Dienst nicht rechtzeitig zu enttarnen vermochte. Durch die Ränke dieses sorgfältig konspirierenden Feindes haben wir viel Zeit und viele Menschen verloren, und am dreißigsten November wären wir beinahe um die Früchte unserer monatelangen Bemühungen gebracht worden.«
    Bei diesen Worten bekreuzigte sich der Imperator.
    »Gott hat Rußland gerettet.«
    »Nach dem dritten Sturmangriff haben wir – genauer, ich, denn es waren meine Überlegungen – einen ernsten Fehler begangen. Wir haben Oberstleutnant Kasansaki für den wichtigsten Agenten der Türken gehalten und damit dem wahren Schuldigen volle Handlungsfreiheit eingeräumt. Heute steht außer Zweifel, daß uns von Anfang an der britische Untertan MacLaughlin geschadet hat. Er ist unstrittig ein Spitzenagent, ein außergewöhnlicher Schauspieler, der sich lange und

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