Türkisches Gambit
erstens. Ja, in London liebt man uns nicht. Ja, man bereitet sich auf einen großen Krieg vor. Aber Kuriere ermorden und Diversionsakte durchführen, das wäre doch zu viel. Das widerspräche dem sportlichen Geist der Briten. Das hat mir auch Graf Schuwalow gesagt.
Ich war in der R-redaktion der ›Daily Post‹ und konnte mich von der völligen Unschuld MacLaughlins überzeugen. Das zweitens. Die Freunde und Kollegen bezeichnen James als einen geradlinigen und arglosen Mann, der zu der britischen Politik eine ablehnende Einstellung hat und Verbindung zur irischen Nationalbewegung unterhält. Als Agent des tückischen Disraeli kommt er nicht in Betracht.
Auf der Rückreise – es lag ja am Wege – blieb ich ein paar Tage in Paris. Ich schaute auch bei der Redaktion der ›Revue Parisienne‹ vorbei …«
D’Hévrais bewegte sich, und die Gendarmen rissen dieKarabiner hoch, bereit zu schießen. Der Journalist schüttelte ausdrucksvoll den Kopf und legte die Hände nach hinten unter die Schöße seines Gehrocks.
»Dort hörte ich«, fuhr Fandorin fort, als wäre nichts weiter, »daß den berühmten Charles d’Hévrais noch nie jemand in seiner Redaktion gesehen hatte. Das drittens. Er pflegte seine glänzenden Artikel, Skizzen und Feuilletons mit der Post oder dem Telegraphen zu schicken.«
»Na und?« sagte Sobolew entrüstet. »Charles ist kein Parkettschleicher, sondern ein Abenteurer.«
»Und d-das sogar in größerem Maße, als Euer Exzellenz vermuten. Ich durchwühlte die Jahrgänge der ›Revue Parisienne‹ und fand hochinteressante Übereinstimmungen. Die ersten Beiträge schickte Herr d’Hévrais vor zehn Jahren aus Bulgarien – damals war Midhat Pascha Gouverneur in der Donauprovinz, und sein Sekretär war der junge Beamte Anwar. 1868 schickte d’Hévrais aus Konstantinopel eine Reihe glänzender Skizzen über die Sitten am Hof des Sultans. Es war die Periode des ersten Aufstiegs von Midhat Pascha, als er in die Hauptstadt gerufen wurde, um den Staatsrat zu leiten. Ein Jahr später wurde der Reformer in eine ehrenvolle Verbannung geschickt, ins ferne Zweistromland, und die flotte Feder des talentierten Journalisten wechselte wie durch einen Zauber von Konstantinopel nach Bagdad. Drei Jahre (so lange wie Midhat Pascha Gouverneur im Irak war) schrieb d’Hévrais über die Ausgrabungen assyrischer Städte, über arabische Scheichs und den Suezkanal.«
»Das stimmt nicht!« unterbrach Sobolew den Titularrat ärgerlich. »Charles hat den ganzen Orient bereist. Er hat auch von anderen Plätzen berichtet, die Sie jetzt nicht erwähnen, weil sie Ihre Hypothese gefährden. 1873 zum Beispiel war er mit mir in Chiwa. Wir waren beide halbtot vorDurst und vor Hitze. Und dort gab es keinen Midhat, Herr Untersuchungsführer!«
»Und von wo war er nach Chiwa, nach Mittelasien gekommen?« fragte Fandorin den General.
»Ich glaube, vom Iran.«
»Ich nehme an, nicht vom Iran, sondern vom Irak. Ende 1873 druckte die Zeitung seine lyrischen Etüden über Hellas. Warum plötzlich über Hellas? Weil der Gönner unseres Anwar Effendi damals nach Saloniki versetzt wurde. Apropos, Warwara Andrejewna, erinnern Sie sich an die schöne Geschichte von den alten Stiefeln?«
Warja nickte und sah Fandorin wie verzaubert an. Der trug geradezu Unglaubliches vor, aber wie sicher, wie schön, wie souverän! Und er stotterte gar nicht mehr.
»Dort ist ein Schiffbruch erwähnt, der sich im November 1873 im Thermäischen Meerbusen zutrug. Übrigens, an der Küste dieses Meerbusens liegt die Stadt Saloniki. Der Artikel hat mir gezeigt, daß der Autor sich 1867 in Sofia aufhielt und 1871 im Zweistromland, denn ebendort hatten arabische Nomaden die britische archäologische Expedition von Sir Andrew Wayard niedergemetzelt. Nach den ›Alten Stiefeln‹ hatte ich schon einen ernsthaften Verdacht gegen Monsieur d’Hévrais, aber mit seinen geschickten Manövern hat er mich noch ein paarmal in die Irre geführt … Und jetzt«, Fandorin versorgte den Revolver in die Tasche und wandte sich Misinow zu, »lassen Sie uns ausrechnen, welcher Schaden uns durch die Tätigkeit des Herrn Anwar entstanden ist. Monsieur d’Hévrais hat sich dem Korps der Kriegsberichterstatter Ende Juni vorigen Jahres angeschlossen. Es war die Zeit der siegreichen Angriffe unserer Armee. Die Donau war überschritten, die türkische Armee demoralisiert, der Weg nach Sofia und von dort nach Konstantinopel offen. DieAbteilung des Generals Gurko hatte schon den
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