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Türme Der Dämmerung

Titel: Türme Der Dämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L. E. Modesitt
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die Magier vom Gesang halten.«
    Der Mann ohne Namen stellt den Stiefel ans untere Ende der obersten Pritsche und klettert hinauf. Keine Frauen? Was ist mit der Heilerin? Und Gesang? Es gibt so vieles, das er nicht weiß.
    Er legt sich auf die schmale Pritsche dicht unter dem Holzdach. Seine Muskeln schmerzen, doch nicht so stark wie in den ersten Tagen des Steineschleppens.
    Obgleich seine Ferse nicht mehr schmerzt, kann er nicht einschlafen und lauscht den leisen Bemerkungen der anderen Gefangenen.
    »Ein Lied …«, sagt einer leise.
    Der silberhaarige junge Mann schiebt sich zur Kante und blickt hinab.
    Redrick sitzt auf dem Boden zwischen den untersten Pritschen, räuspert sich und schaut zum offenen Eingang und in die Dunkelheit dahinter.
    »Los … ein Lied«, fordert ihn ein älterer Mann mit Glatze auf, dessen Arme jungen Bäumen gleichen.
    »Ein Lied?«
    »Ein Lied.«
    »Schsch …«, macht einer von oben. »Bei dem Krach haben wir die Leute der Magier schneller hier als der Blitz.«
    Die einzige Lampe flackert im Windstoß, der durch den offenen Eingang in den Wagen bläst.
    »Scheiße!« Das war der Gefangene auf der untersten der drei Pritschen in der Reihe, wo der Mann ohne Namen schläft.
    Redrick blickt beunruhigt nach draußen und räuspert sich erneut. Dann ertönt seine dünne Stimme, weder von Gitarre noch von Flöte begleitet, wie ein klarer Bergbach am Morgen. Ein Ton, ein Wort nach dem anderen.
     
    Bitte nicht das Lied, gesungen zu werden,
    noch die Glocke, geläutet zu werden,
    oder dass meine Geschichte zu Ende ist.
    Die Antwort ist alles – und nichts.
    Die Antwort ist alles – und nichts.
     
    Oh, weiß war die Farbe meiner Liebe,
    so hell und weiß, einer Taube gleich,
    und weiß war er, so hell wie auch sie,
    der mir mein Lieb entführt’ …
     
    Selbst im flackernden Lampenschein sieht man, wie angespannt der Sänger ist, als kämpfe er mit jedem Wort gegen einen unsichtbaren Gegner, als wäre jeder Ton ein Pfeil gegen die weißrote Flamme, die ihn verzehren will.
    Für den silberhaarigen jungen Mann steigen diese zerbrechlichen Töne wie silbrige Irrlichter vom Sänger zum Dach des Wagens empor. Mit ihrem nichtstofflichen Schein sind sie heller als die gelbe Flamme der Lampe. Er streckt die Hand aus und umschließt eine einzige geordnete Schwingung.
    Grelle Pfiffe.
    Redricks Stimme wird schwächer und verstummt …
    Der Ton birst zu weniger als Staub. Der Mann ohne Namen starrt mit totem Blick auf die Leere zwischen der Handfläche und den Fingern. Er spürt, wie sich seine Augen mit Tränen füllen. Tränen? Wegen eines Teils von Nichts?
    »Ha, singen!« ertönt die raue Stimme des Wachpostens. »Was für eine fröhliche kleine Gesellschaft wir hier haben. Und wer hat gesungen?« Er deutet mit seinem Weißen Stab auf den dünnen Mann mit dem rotgrauen Haar. »Du schon wieder? Immer noch Ärger machen?«
    Redrick blickt den Soldaten nicht an.
    Dieser versetzt ihm mit dem Stab einen Stoß. »Los. Beweg dich. Die Magier wollen mit dir reden. Du weißt, was sie von Gesang halten.«
    Langsam steht Redrick auf.
    Ehe der silberhaarige Mann es richtig begreift, sind der Soldat und Redrick verschwunden.
    »Singen stört die Arbeit an der Straße …«, ahmt ein Gefangener die Stimme des Wächters nach. Er klingt grausam und verbittert.
    Keine Stimme erhebt Protest. Keine einzige.
    Der silberhaarige Mann wischt die Tränen ab und dreht das Gesicht zur Wand. Doch die ungesungenen Worte hallen in seinem Kopf, ihre Töne füllen seine Ohren.
     
    … die Antwort ist alles – und nichts.
    Die Antwort ist alles – und nichts …
     
    Lange nachdem die anderen eingeschlafen sind, liegt er im dunklen Wagen und starrt auf die weniger als eine Elle entfernte Decke. Durch die Dunkelheit dringen die üblichen Geräusche: das Schnarchen erschöpfter Männer, Knarzen der Pritschen, wenn die Männer sich umdrehen, ab und zu verstümmelte Worte in Hamorisch, wenn ein ausländischer Gefangener im Schlaf in seiner Heimatsprache murmelt.
    Die Muskeln des Manns ohne Namen schmerzen nicht mehr so wie am Anfang, und seine helle Haut ist gebräunt. Doch hat er keinen Namen, nur diese flüsternden Stimmen in seinem Kopf, deren Worte er nicht verstehen kann. Es gibt lediglich eine einzige Sache, an die er sich deutlich zu erinnern vermag: den Schatten mit dem Gesicht einer Frau.
    Doch irgendwann schläft er ein und träumt von goldenen Tönen, die auf grau-schwarzen Mauern glitzern, und von unendlich weiten

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