Türme Der Dämmerung
ohne dass ihm schwindlig wird.«
»Ich komme wieder.«
Der Nieselregen vom Morgen hat sich in schwere Regenschauer verwandelt. Zum ersten Mal seit Tagen ist der Staub verschwunden.
»Versuche, dich aufzusetzen.«
Er schwingt die Beine über die Tischkante. Einen Augenblick lang fühlt er sich wie zwei getrennte Menschen, die nebeneinander sitzen und gleichzeitig eins sind. Selbst der Regen fällt in zwei unterschiedlichen Mustern.
»Jetzt steh auf.«
Die Heilerin mustert ihn scharf, als er leicht schwankend vor ihr steht. Er muss sich am Tisch festhalten. Erneut untersucht sie seine Augen.
»Du kannst dich wieder setzen.« Ihre Stimme klingt leidenschaftslos.
Der Wächter betritt das Zelt.
»Er steht noch nicht fest auf den Beinen, aber mehr kann ich nicht tun.«
Der silberhaarige Mann folgt dem Soldaten durch den Regen zum Unterkunftswagen, in dem sich nun auch andere Gefangene befinden. Jetzt weiß er, dass es gefährlich wäre, zuzugeben, dass er einen Namen hat.
»Silberkopf ist wieder da.«
»Muss einen Schädel aus Eisen haben. Habt ihr gesehen, wie hart Gero zugeschlagen hat?«
Vorsichtig sucht er seine Pritsche auf. Geflissentlich übersieht er den leeren Platz, wo früher der Sänger geschlafen hat. Bald wird dort der nächste unglückliche Gefangene eingewiesen.
Flucht … es bleibt nur wenig Zeit, bis die Weißen Magier ihn entlarven. Zwar weiß er jetzt, wozu er früher imstande war, nicht aber, über welche Fähigkeiten er im Augenblick verfügt.
Ein Blitz durchzuckt die Schlucht, gefolgt von lautem Donner. Der Regen prasselt aufs Dach. Gelegentlich pfeift ein Windstoß in den Wagen.
Allmählich lassen die pochenden Schmerzen in seinem Kopf nach. Er klettert nach unten.
»… bleib doch liegen.«
»… nur Silberkopf.«
Er sagt nichts und taumelt mit leerem Gesichtsausdruck zum Eingang und blickt in den Regen hinaus.
Die alten Muster fügen sich wieder zusammen, allerdings verursachen sie heftige Schmerzwellen in den Augen. Der starke Regen wird noch ein Weilchen anhalten, aber nicht lange.
Unter einer Zeltbahn stehen die Wachen und unterhalten sich gelangweilt.
Er wagt sich in den Regen hinaus und schleicht zu der noch nicht fertig gebauten Mauer, die die Straße von dem tiefer liegenden Abflußkanal links trennt.
»… Silberkopf. Noch verrückter als vorher.«
»… mach das besser nicht!«
Er ist nicht verrückt, sondern bei klarerem Verstand als vor vielen Achttagen, denn nur im Unwetter kann er den Magiern entkommen.
»Gero! Hol den Idioten zurück!«
Der Gefangene läuft schneller, er steuert auf die Wand und das reißende Gewässer gut fünf Ellen unter ihm zu.
Der größere der beiden Wächter zaudert. Dann zückt er das Schwert und nimmt die Verfolgung des silberhaarigen Mannes auf, doch er bewegt sich vorsichtig, versucht nicht auf die regennassen, schlüpfrigen Steine zu treten.
»Lauf, Silberkopf! Lauf!«
»Ruhe!« herrscht der verbliebene Wächter den Anfeuerer an.
Die weitere Flucht gleicht einer stummen Posse, untermalt vom Tosen des reißenden Wasserlaufs. Der Gefangene springt auf die unfertige Mauer und starrt hinunter. Der Wächter macht einen Satz nach vorn, die Hand mit dem Schwert ausgestreckt.
Der Sturm peitscht dem Wächter den Regen ins Gesicht, er läuft langsamer und schüttelt sich.
Der Gefangene schwingt sich über die Mauer, bis nur noch eine Hand zu sehen ist, die sich an die Steine klammert.
Der Wächter hebt das Schwert, beugt sich nach vorn … und hält inne. »Er ist weg. Er ist in den Fluss gesprungen.« Seine Stimme wird von Regen und Sturm verschluckt.
»Warum Fluss?« Ein zweiter Soldat ist zu ihm geeilt. Die heftigen Regenfälle haben den Wasserlauf anschwellen lassen, so dass er jetzt einem reißenden Fluss gleicht.
»Verdammt!«
Beide Wächter eilen zu dem Prachtwagen, in dem die Weißen Magier untergebracht sind.
In den schäumenden Wassermassen lässt sich der silberhaarige junge Mann fürs erste einfach mitreißen. Ehe er zweimal Luft geholt hat, ist er bereits am Tor vorbei, das die fertig gestellte Straße vom Gefangenenlager trennt, vorbei an dem kleinen Universum, das alles beherbergt, was ihm bewusst war … wie lange? Er weiß es nicht, denn sein Leben besteht aus zwei Teilen: aus dem, den er langsam zurückgewinnt, und dem, den er als Gefangener der Weißen Magier verbracht hat. Dieser letzte Teil, bar jeden Verstandes, konnte Tage, Jahreszeiten, sogar Jahre gedauert haben.
Das Wasser trägt ihn nach Osten, fort
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