Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
diejenigen, die ihm begegnen, und versengt ihr Fleisch. « Cal kicherte erneut. »Aber er ist irgendwie toll, oder?«
Will starrte wie gebannt auf den Gehweg, der nun völlig seiner Sicht entzogen war. Vor dem Fenster wurde es schwarz, und er spürte einen unangenehmen Druck in den Ohren. Seine Haut schien zu vibrieren, und sämtliche Härchen waren steil aufgerichtet. Mehrere Minuten lang wogte die schwarze Wolke durch die Straße und erfüllte das Zimmer mit dem Geruch von verbranntem Ozon und einer unheimlichen Stille. Schließlich lichtete sich der Nebel, der Schein der Straßenlaternen brach durch den wirbelnden Staub hindurch wie Sonnenstrahlen durch eine Wolkendecke, und dann war der Spuk vorbei – nur noch ein paar diffuse graue Nebelfetzen hingen in der Luft, als hätte jemand mit einem Aquarellpinsel über die Szenerie gestrichen.
»Und jetzt sieh dir das mal an!«
»Wunderkerzen?«, fragte Will und traute seinen Augen kaum.
»Ein elektrostatischer Sturm … der folgt immer nach einem Pechsturm«, sagte Cal und sprühte förmlich vor Begeisterung. »Man kriegt ordentlich eine gewischt, wenn man damit in Berührung kommt.«
In atemlosem Erstaunen sah Will zu, wie eine Schar von Kugelblitzen aus den sich auflösenden Wolken austrat. Einige besaßen die Größe von Tennisbällen, während andere an Wasserbälle erinnerten; aber sie alle sprühten unter lautem Sirren leuchtende Funken, als hätten sich ein paar Feuerräder selbstständig gemacht und zögen nun randalierend durch die Stadt.
Wie gebannt standen die beiden Jungen vor dem Fenster, als direkt vor ihnen ein Kugelblitz von der Größe einer Melone in der Luft schwebte. Sein vibrierendes Licht ließ ihre Gesichter aufleuchten und spiegelte sich in ihren großen Augen. Doch dann stürzte er abrupt in einer Abwärtsspirale zu Boden, drehte sich dabei um sich selbst und schrumpfte Funken sprühend auf die Größe eines Hühnereis zusammen. Als er dicht über dem Kopfsteinpflaster schwebte, schien der erlöschende Kugelblitz ein letztes Mal kurz aufzuflackern; dann verglühte er innerhalb von Sekundenbruchteilen.
Will und Cal konnten sich von dem Anblick nicht losreißen. Die Spuren der letzten Sekunden des Feuerballs wurden ihnen förmlich in die Netzhaut gebrannt – kleine leuchtende Striche wie optische Nadelstiche.
28
Weit unterhalb der Straßen und Häuser rührte sich eine einsame Gestalt.
Der Sturm hatte als sanfte Brise begonnen, dann aber rasch an Stärke gewonnen und sich zu einem schrecklichen Orkan entwickelt, der ihm mit der Wucht eines Wüstensturms Staub und Sand ins Gesicht fegte. Er hatte sich sein Ersatzhemd über Mund und Nase gewickelt, als der Wind immer heftiger wurde und er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Und dann war der Staub so dicht und undurchdringlich geworden, dass er nicht einmal mehr die Hand vor Augen sah.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis der Sturm vorüber war. Er ließ sich auf den Boden fallen, rollte sich zu einer Kugel zusammen und presste die Augen, die von dem feinen schwarzen Staub brannten, fest zu. Auf diese Weise hatte er ausgeharrt; das Heulen des Windes hatte jeden anderen Gedanken vertrieben, und schließlich war er, vom Hunger geschwächt, in einen apathischen Halbschlaf gefallen.
Einige Zeit später schreckte er hoch und hob vorsichtig den Kopf. Er wusste nicht, wie lange er zusammengekauert auf dem Boden des Tunnels gelegen hatte. Die seltsame Dunkelheit des Sturms war verschwunden; lediglich ein paar graue Wolkenfetzen hingen noch in der Luft. Hustend und spuckend setzte er sich auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung.
Mit einem fleckigen Taschentuch rieb er sich die tränenden Augen und putzte seine Brille.
Und dann kroch Dr. Burrows auf allen vieren weiter und tastete im Schein einer Leuchtkugel nach einem kleinen Haufen organischen Materials, das er zum Anzünden eines Feuers zusammengetragen hatte, bevor ihn der Sturm überraschte. Als er ihn schließlich fand, zog er einen Gegenstand daraus hervor, der einem zusammengerollten Farnwedel ähnelte, und betrachtete ihn neugierig. Er hatte keine Ahnung, worum es sich dabei handelte. Genau wie alles andere in diesem etwa acht Kilometer langen Tunnelabschnitt war der Wedel trocken und brüchig wie altes Pergament.
Sein schwindender Wasservorrat bereitete ihm zunehmend Sorgen. Als er in den Grubenzug gestiegen war, hatten die Kolonisten ihm umsichtigerweise eine volle Feldflasche Wasser, einen
Weitere Kostenlose Bücher