Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
nicht, allzu großes Interesse an der Festung zu zeigen.
Cal konnte nicht nachvollziehen, warum Will so großen Wert auf sein Tagebuch legte, und löcherte ihn regelmäßig, wozu das Ganze dienen solle. Will erklärte ihm, sein Vater habe ihm das beigebracht: Jedes Mal, wenn sie bei ihren Ausgrabungen auf etwas Interessantes gestoßen waren, hatten sie Fundort und Fundstück sorgfältig dokumentiert.
Und damit waren sie wieder beim Thema: Wills Vater. Was Will anbelangte, so war Dr. Burrows noch immer sein Vater, und Mr Jerome landete weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz, selbst wenn er tatsächlich sein leiblicher Vater sein sollte. Seine geistig verwirrte Übergrundler-Mutter und seine Schwester Rebecca waren für Will immer noch seine richtige Familie. Trotzdem empfand er starke Zuneigung zu Cal, Onkel Tam und Großmutter Macaulay, und manchmal war er so hin- und hergerissen, wem seine Treue gelten musste, dass die Gefühle wie ein Tornado durch seinen Kopf wirbelten.
Als er eines Nachmittags die Skizze eines Koloniehauses fertigstellte, schweiften seine Gedanken ab, und er träumte erneut mit offenen Augen von seinem Vater und dessen Reise in die Tiefen. Will wollte unbedingt erfahren, wie es da unten aussah, und er wusste, dass er seinem Vater eines nicht mehr allzu fernen Tages folgen würde. Aber jedes Mal, wenn er sich seine Zukunft ausmalte, wurde er unsanft in die raue Wirklichkeit zurückgerissen beim Gedanken an die schreckliche Notlage seines Freundes Chester, der noch immer in dieser entsetzlichen Zelle hockte.
Will legte den Stift beiseite und rieb über die Schwielen, die sich in seinen Handflächen gebildet hatten.
»Tut’s weh?«, fragte Cal.
»Nicht so schlimm wie vor ein paar Tagen«, erwiderte Will. Seine Gedanken wanderten zu der Arbeit zurück, die er am Tag verrichtet hatte – die Reinigung von mannshohen Kanalrohren, die zum Dränagesystem einer riesigen Jauchegrube der Gemeinde gehörten. Will erschauderte; es war die bis dahin schlimmste Aufgabe gewesen, die man ihm zugeteilt hatte. Mit schmerzenden Armen setzte er seine Notizen fort. Doch dann wurde er erneut aus seiner Konzentration gerissen, als plötzlich eine Sirene losging – das dumpfe, unheimliche Heulen erfüllte das gesamte Haus. Will stand auf und versuchte herauszufinden, woher das Warnsignal kam.
»Pechsturm!« Cal sprang von seinem Bett und stürzte zum Fenster, um es zu schließen. Will stellte sich zu ihm und sah, wie die Leute auf den Gehwegen vor dem Haus wie verrückt davonrannten, bis die Straße wie leer gefegt war. Cal zeigte aufgeregt nach draußen, zog dann die Hand zurück und betrachtete die Haare auf seinem Unterarm, die sich durch die rasch zunehmende statische Aufladung der Luft aufrichteten.
»Gleich geht’s los!« Er zupfte seinen Bruder am Ärmel. »Ich kann’s kaum erwarten.«
Doch nichts passierte. Das Heulen der Sirene hielt an, während Will, der nicht wusste, in welche Richtung er schauen musste, die leere Straße mit den Augen nach etwas Ungewöhnlichem absuchte.
»Da! Da!«, rief Cal und starrte in eine Richtung im hinteren Bereich der Höhle. Will folgte seinem Blick und versuchte, irgendetwas zu erkennen. Aber es schien, als würde mit seinen Augen etwas nicht stimmen: Er hatte das Gefühl, als könnte er nicht richtig fokussieren.
Und dann sah er auch, warum.
Eine gewaltige Wolke wälzte sich durch die Straße – wirbelnd wie Tinte, die sich in Wasser auflöst – und verhüllte alles, was sich in ihrer Bahn befand. Während Will aus dem Fenster schaute, sah er, wie die Straßenlaternen tapfer noch heller zu leuchten versuchten, bis der rußige Nebel ihr Licht fast vollständig verschluckte. Es schien, als würden nächtliche Wellen über den Lichtern eines sinkenden Ozeandampfers zusammenschlagen.
»Was ist das?«, fragte Will fasziniert. Er drückte seine Nase gegen die Fensterscheibe, um den dunklen Nebel besser sehen zu können, der nun rasch den Rest der Straße erfasste.
»Eine Art Rückströmung aus dem Inneren«, erklärte Cal. »Man bezeichnet das auch als ›Levantewind‹. Er steigt aus den unteren Tiefen auf – fast wie ein Rülpser.« Er kicherte.
»Ist er gefährlich?«
»Nein, der Pechsturm besteht nur aus Staub und so was, aber die Leute denken, es bringt Unglück, wenn man ihn einatmet. Es heißt, er würde irgendwelche Bazillen mit sich tragen«, fügte er lachend hinzu und imitierte dann den monotonen Singsang der Styx: »Er bringt Verderben über
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