Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
im Kreis der stämmigen Kolonisten hin und her tänzelte, irgendwelche Dinge aus den Kisten nahm und sie dem Publikum mit theatralischer Geste präsentierte: Wie ein windiger Uhrenverkäufer rieb er kurz mit dem Ärmel darüber und legte sie behutsam auf einen aufgebockten Tisch. Und dann endlich fiel der Groschen.
»Sag bloß, er verkauft hier Obst!«, wandte Will sich an den Jungen.
»Und Gemüse.« Der Junge musterte Will neugierig. »Die Familie Clarke ist schon mit uns im Geschäft, seit wir …«
»Oh, Mann, was ist das denn?«, unterbrach Will ihn und zeigte auf eine fremdartige Gestalt, die aus dem Schatten der hoch gestapelten Obst- und Gemüsekisten herausgetreten war. Während die Kolonisten weiterhin mit dem wild gestikulierenden Mr Clarke dem Jüngeren verhandelten, stand die sichtlich ignorierte Gestalt etwas abseits und inspizierte eine Ananas, als handele es sich um ein seltenes Fundstück.
Der Junge folgte Wills ausgestrecktem Finger. Die Gestalt erschien zwar menschlich, mit Armen und Beinen, war aber in eine Art aufgeblähten beigeweißen Taucheranzug gehüllt und sah zwiebelförmig aus – wie die Karikatur eines fetten Mannes. Kopf und Gesicht blieben unter der Kapuze des Anzugs vollständig verborgen. Eine große Schutzbrille blitzte auf, als sich das Licht der Straßenlaterne darin spiegelte. Die Gestalt sah aus wie eine menschliche Schnecke oder eher wie ein schneckenartiger Mensch.
»Meine Fresse, weißt du denn gar nichts?« Der Junge lachte verächtlich über Wills Unwissenheit. »Das ist doch nur ein Koprolith! «
Will runzelte die Stirn. »Ja, richtig, ein Koprolith.«
»Von da unten«, fügte der Junge hinzu, deutete mit dem Kopf auf den Boden und trottete davon. Will blieb zurück, um die seltsame Gestalt noch einen Moment zu beobachten. Sie bewegte sich so langsam, dass sie ihn an die Blutegel erinnerte, die im Bodenschlamm des Schulaquariums lebten. Die ganze Szenerie war ein unfassbarer Anblick: Der Gemüsehändler im rosa Blazer und der Koprolith, der eine Ananas inspizierte – und das alles tief unter der Erde.
Will überlegte gerade, ob er zu der Gruppe hinübergehen und Mr Clarke den Jüngeren ansprechen sollte, als er plötzlich zwei Polizisten am Rande der Menge entdeckte. Rasch drehte er sich um und machte sich wieder auf den Heimweg. Eine Frage quälte ihn unablässig und drängte jeden anderen Gedanken beiseite: Wenn die Gebrüder Clarke von der Kolonie wussten, wie viele andere Leute in Highfield führten dann ebenfalls ein Doppelleben?
Im Laufe der nächsten Wochen teilte man Will anderen Arbeitstrupps in weiter entfernten Gebieten der Kolonie zu, wodurch er einen Einblick in den Aufbau dieser unterirdischen Gesellschaft erhielt. Er versuchte, alles möglichst genau in seinem Tagebuch festzuhalten: Die Styx standen ganz oben in der Hackordnung und waren niemandem Rechenschaft schuldig. Danach folgte eine kleine, privilegierte Regierungselite von Kolonisten, der auch Mr Jerome angehörte. Will hatte keine Ahnung, was diese Gouverneure eigentlich machten, und als er Cal danach befragte, stellte sich heraus, dass sein Bruder es auch nicht wusste. Auf der nächsten Stufe der Rangordnung standen die einfachen Kolonisten, gefolgt von einer Gruppe Unglückseliger, die nicht arbeiten konnten oder wollten und in verschiedenen Elendsvierteln hausten, von denen die Rookeries zu den größten zählten.
Jeden Nachmittag, wenn Will sich nach der Arbeit den Dreck und Schweiß im sogenannten Bad der Familie Jerome abgewaschen hatte, sah Cal zu, wie sein Bruder sich auf das Bett hockte und akribisch Tagebuch führte, mit zahlreichen Notizen und erläuternden Zeichnungen. So zeigten seine Skizzen unter anderem die Kinder, die auf einer der Müllhalden arbeiteten – ein ziemlich beeindruckender Anblick, diese winzigen Kolonisten, kaum den Windeln entwachsen und doch schon äußerst geschickt beim Durchstöbern der riesigen Müllberge nach wiederverwertbaren Materialien.
»Nichts wird verschwendet«, erklärte Cal seinem Bruder. »Ich muss es wissen, schließlich habe ich das jahrelang gemacht!«
Andere Zeichnungen Wills zeigten die massive Festung am äußersten Rand der Südkaverne, in der die Styx lebten und die von einer hohen Eisenpalisade umzäunt war. Diese Skizze hatte Will noch die meisten Schwierigkeiten bereitet, weil er keine Gelegenheit gehabt hatte, nahe an das Bollwerk heranzukommen. Denn in den umliegenden Straßen patrouillierten Wachen, und es empfahl sich
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