Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
erwiderte Will. Er sprang von der Leiter und versuchte, ein Seitenteil des Bücherregals von der Wand zu ziehen.
»Es gibt tatsächlich nach. Komm, hilf mir mal«, forderte er Chester auf.
»Vielleicht ist es nur schlecht montiert«, meinte Chester.
»Schlecht montiert?«, sagte Will entrüstet. »Ich hab persönlich beim Aufbauen geholfen.«
Gemeinsam zogen sie mit aller Kraft an den Seitenteilen, aber obwohl sich hinter der Bücherwand ein kleiner Spalt öffnete, schien das oberste Brett des Regalsystems fest an der Wand angebracht zu sein.
»Lass mich mal was überprüfen«, sagte Will und stieg erneut auf die Leiter. »Hier klemmt ein loser Nagel in der Regalhalterung.« Er zog ihn heraus und ließ ihn vor Chester auf den Betonboden fallen. »Wir haben damals Schrauben verwendet, um das Regal an der Wand zu montieren, keine Nägel« ,sagte Will und sah Chester ratlos an.
Dann sprang er von der Leiter, und gemeinsam zogen sie erneut an der Bücherwand. Dieses Mal schwang sie ächzend und quietschend von der Mauer, und die beiden Jungen erkannten, dass sie lediglich an einer Seite mithilfe eines Scharniers am Mauerwerk befestigt war.
»Dafür dient also das Stromkabel!«, rief Will, als er und Chester auf die grobkantige Öffnung in der unteren Wandhälfte starrten, wo jemand die Ziegelsteine entfernt hatte und ein etwa ein Quadratmeter großes Loch entstanden war. Dahinter befand sich ein Durchgang, beleuchtet von einer bunten Sammlung alter Neonröhren, die über die gesamte Länge verteilt waren.
»Wow!«, stieß Chester hervor. Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ein Geheimgang!«
Will grinste breit. »Okay, dann wollen wir mal.« Bevor Chester auch nur irgendetwas sagen konnte, tauchte Will durch die Öffnung und krabbelte mit ziemlichem Tempo durch den Gang. »Hier hinten ist eine Krümmung«, drang seine gedämpfte Stimme zu Chester vor.
Während sein Freund nur zusah, verschwand Will hinter der Kurve und kam dann ganz langsam wieder zum Vorschein. Er hockte sich auf die Fersen, wandte Chester das Gesicht zu und zog eine unglückliche Miene.
»Was ist los?«, fragte Chester.
»Der Gang ist blockiert. Eine Schutthalde versperrt den Weg«, sagte Will.
Langsam kroch er wieder aus dem Tunnel, kletterte durch das Loch in der Wand zurück in den Keller und richtete sich auf. Dann zog er seinen Schulblazer aus und ließ ihn einfach zu Boden fallen. Erst in diesem Moment bemerkte er Chesters ernsten Gesichtsausdruck.
»Was hast du?«
»Die Schutthalde … du glaubst doch nicht, dass dein Vater da drunter liegt, oder?«, fragte Chester fast im Flüsterton und konnte ein Schaudern kaum unterdrücken, als er sich das Bild ausmalte. »Er könnte da drunter … begraben sein«, fügte er düster hinzu.
Besorgt schaute Will zur Seite und dachte einen Moment nach. »Also gut, es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.«
»Sollten wir denn nicht jemanden informieren?«, stotterte Chester erschrocken über die scheinbare Gleichgültigkeit seines Freundes. Doch Will hörte schon gar nicht mehr zu. Seine Augen waren zu Schlitzen zusammengekniffen, und sein Gehirn arbeitete bereits fieberhaft an einem Plan.
»Der Schutt ist der gleiche wie der in unserem Vierzig-Krater-Tunnel – und auch hier passt es nicht. Wieder einmal stecken Kalksteinbrocken dazwischen«, sagte er, lockerte seine Krawatte, zog sie sich über den Kopf und warf sie neben den Uniformblazer. »Das kann kein Zufall sein.« Erneut wandte er sich der Öffnung in der Wand zu und beugte sich vor. »Und hast du die Stempel gesehen?«, fragte er, wobei er mit der Hand über die erste Strebe in der Nähe der Öffnung fuhr. »Das war kein Unfall. Irgendjemand hat die Stützen ganz gezielt umgehauen und weggeschlagen.«
Chester hockte sich neben seinen Freund und betrachtete die Stempel, die tiefe Einkerbungen aufwiesen. An manchen Stellen waren sie sogar fast vollständig durchtrennt, als hätte jemand sie mit einer Axt bearbeitet.
»Stimmt, du hast recht«, sagte er.
Will krempelte die Ärmel hoch. »Dann sollten wir lieber gleich anfangen. Jetzt ist die beste Gelegenheit.« Er tauchte durch die Öffnung und zog einen Eimer hinter sich her, den er am Eingang des Tunnels gefunden hatte.
Chester warf einen Blick auf seine Schuluniform. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, besann sich dann aber eines Besseren, zog den Blazer aus und hängte ihn sorgfältig über die Stuhllehne.
15
»Los!«, stieß Will leise hervor,
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