Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
strauchelte er über das rutschige Kopfsteinpflaster, während sich die Schatten in einer solchen Menge zusammenballten, dass sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren und zu einer einzigen düsteren Woge verschmolzen. Ihre Finger streckten sich wie lebendige dunkle Rauchfahnen nach ihm aus und packten ihn, während er verzweifelt versuchte, sich ihnen zu entziehen. Doch die Schatten hielten ihn fest, zogen ihn mit ihren tintenschwarzen Tentakeln zurück, bis er sich schließlich nicht mehr von der Stelle bewegen konnte. Er warf einen letzten Blick auf seinen Vater in der Ferne und stieß einen stummen Schrei aus. Die nachtschwarze Woge legte sich über ihn; im nächsten Moment war er vollkommen schwerelos und fiel in ein tiefes Loch. Schließlich traf er mit solcher Wucht auf dem Boden auf, dass es ihm die Luft aus den Lungen presste. Nach Atem ringend, rollte er sich auf den Rücken und sah zum ersten Mal die finsteren und missbilligenden Mienen seiner Verfolger, die auf ihn hinabblickten.
Er öffnete den Mund, doch ehe er wusste, wie ihm geschah, wurde dieser mit Erde gefüllt – er konnte die Erde schmecken, als sie seine Zunge nach unten drückte. Steine kratzten und schlugen gegen seine Zähne. Er wurde bei lebendigem Leib begraben – er bekam keine Luft mehr …
Würgend und hustend schreckte Will aus seinem Schlaf hoch; sein Mund war trocken, und kalter Schweiß rann ihm über den Rücken, als er sich aufsetzte. In heißer Panik tastete er nach dem Schalter seiner Nachttischlampe; mit einem Klick tauchte die Glühbirne den Raum in beruhigendes gelbes Licht. Will warf einen Blick auf seinen Wecker: Es war mitten in der Nacht. Keuchend ließ er sich in seine Kissen sinken und starrte an die Decke. Er zitterte am ganzen Körper. Die Erinnerung an die Erde, die ihm die Kehle verstopfte, war so lebendig und frisch, als wäre es ihm tatsächlich widerfahren. Und während er dalag und zu Atem zu kommen versuchte, wurde er erneut von einer heftigen Sehnsucht nach seinem Vater überfallen. Sosehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, dieses Gefühl der überwältigenden Leere von sich abzuschütteln. Nach einer Weile gab er den Versuch, wieder einzuschlafen, entmutigt auf und sah zu, wie das kalte Licht der Morgendämmerung an den Vorhangsäumen züngelte und sich schließlich in den Raum hineinstahl.
16
Wochen vergingen, bis schließlich ein Kriminalbeamter seinen Besuch ankündigte, um mit Mrs Burrows über das Verschwinden ihres Mannes zu reden. Er trug einen dunkelblauen Regenmantel über einem hellgrauen Anzug und sprach sehr gewählt, wenn auch ein wenig brüsk, als er sich Will und Rebecca vorstellte und ihre Mutter zu sprechen verlangte. Gemeinsam führten sie ihn ins Wohnzimmer, wo Mrs Burrows bereits wartete.
Als die Geschwister dem Beamten in das Zimmer folgten, rissen sie erstaunt die Augen auf. Einen kurzen Moment dachten sie, sie hätten sich vielleicht im Raum geirrt. Der Fernseher – dieses ewige Licht, das ununterbrochen in der Ecke leuchtete – war stumm und dunkel. Nicht minder bemerkenswert war die Tatsache, dass das ganze Wohnzimmer unglaublich aufgeräumt und sauber wirkte. Während der Zeit von Mrs Burrows selbst gewähltem Eremitendasein hatten weder Will noch Rebecca einen Fuß in den Raum gesetzt, und beide waren davon ausgegangen, dass das Wohnzimmer sich in ein unbeschreibliches Chaos verwandelt haben und mit halb verzehrten Mahlzeiten, leeren Packungen und schmutzigen Tassen und Tellern übersät sein musste. Doch mit dieser Vermutung lagen sie völlig falsch: Das Zimmer war makellos sauber. Aber noch viel erstaunlicher war ihre Mutter. Statt des tristen Morgenmantels und der abgelatschten Pantoffeln trug sie nun eines ihrer schönsten Sommerkleider; außerdem hatte sie ihre Haare gemacht und sogar ein wenig Make-up aufgelegt.
Will starrte sie ungläubig an und fragte sich, was um alles in der Welt diese plötzliche Verwandlung bewirkt haben konnte. Ihm fiel kein vernünftiger Grund ein, und er stellte sich vor, dass sie vielleicht glaubte, sie bekäme eine Rolle in einer ihrer heiß geliebten Krimiserien – aber das war irgendwie auch keine sinnvolle Erklärung.
»Mum, das ist … das ist …«, stotterte er.
»Kriminalhauptkommissar Beatty«, kam ihm seine Schwester zu Hilfe.
»Kommen Sie doch herein«, sagte Mrs Burrows, erhob sich aus dem Sessel und lächelte freundlich.
»Vielen Dank, Mrs Burrows … Ich weiß, dass Sie im Moment eine schwere Zeit
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