Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
Augen langsam an die einzige Lichtquelle in der Zelle gewöhnten – das spärliche Licht, das durch eine Sichtklappe in der Zellentür fiel. Schließlich brach Chester die Stille, indem er laut schnupperte.
»Oh, Mann, was ist das für ein Geruch?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Will, nachdem auch er um sich herum geschnuppert hatte. »Kotze? Schweiß?« Dann zog er die Luft ein weiteres Mal durch die Nase ein und verkündete mit kennerischer Miene: »Phenol und …« Erneut schnuppernd, fügte er hinzu: »Ist das Schwefel?«
»Was?«, murmelte sein Freund.
»Nein, Kohl! Der Geruch von gekochtem Kohl!«
»Mir egal, was das ist – es stinkt«, sagte Chester und verzog angewidert das Gesicht. »Dieser Ort ist einfach total ekelhaft.« Er wandte sich seinem Freund zu. »Wie sollen wir hier wieder rauskommen, Will?«
Will zog die Knie an und stellte seine Füße auf die Kante des Vorsprungs; dann kratzte er sich an der Wade, gab aber keine Antwort. Insgeheim war er furchtbar wütend auf sich, aber er wollte nicht, dass sein Freund davon etwas mitbekam. Möglicherweise hatte Chester mit seiner vorsichtigen Art und seinen Warnungen die ganze Zeit recht gehabt. Will biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Ich Blödmann!, dachte er. Wie zwei Amateure waren sie blind drauflosgestolpert. Er hatte sich von der Situation vollkommen hinreißen lassen. Und wie sollte er nun jemals seinen Vater wiederfinden?
»Ich hab ein verdammt schlechtes Gefühl bei dieser ganzen Geschichte«, sagte Chester und schaute trostlos zu Boden. »Wir werden unser Zuhause nie mehr zu sehen kriegen, oder?«
»Hör zu, mach dir keine Sorgen. Wir haben einen Weg hineingefunden und wir werden todsicher auch einen hinausfinden«, sagte Will, um seinen Freund zu beruhigen. Dabei hätte er sich angesichts ihrer Lage, selbst kaum übler fühlen können.
Danach war beiden Jungen nicht mehr nach Reden zumute, und in der Zelle hörte man nur noch das allgegenwärtige Dröhnen und das Krabbeln und Rascheln irgendwelcher Insekten.
Erschrocken fuhr Will hoch und schnappte keuchend nach Luft, als tauchte er aus einem tiefen See auf. Überrascht stellte er fest, dass er in seiner halb sitzenden Haltung auf dem Bleivorsprung tatsächlich eingedöst war. Wie lange hatte er geschlafen? Mit trüben Augen sah er sich in der dämmrigen Zelle um. Chester stand mit dem Rücken zur Wand, presste sich an das Mauerwerk und starrte mit großen Augen in Richtung der Zellentür. Will konnte seine Angst förmlich spüren. Automatisch folgte er Chesters Blick zur Sichtklappe: Hinter der kleinen Öffnung leuchtete das finstere Gesicht des älteren Polizisten auf, von dem allerdings – bedingt durch die Größe seines Kopfes – nur Augen und Nase sichtbar waren.
Der Schlüssel rasselte im Schloss. Dann wurde die Tür aufgerissen und die Silhouette des Mannes zeichnete sich wie eine riesige Karikatur im Türrahmen ab.
»DU DA!« Er zeigte auf Will. »MITKOMMEN!«
»Warum? Wozu?«
»BEWEG DICH!«, blaffte der Polizist.
»Will?«, fragte Chester angespannt.
»Keine Sorge, Chester, ist schon okay«, erwiderte Will matt und stand auf; seine Beine waren von der Feuchtigkeit ganz steif und verkrampft. Er dehnte sie vorsichtig, trat dann hölzern aus der Arrestzelle in den Flur und marschierte unaufgefordert zur Ausgangstür des Zellentrakts.
»Bleib stehen!«, fauchte der Polizist, während er die Tür wieder verriegelte. Dann packte er Will grob am Arm und bugsierte ihn aus dem Zellentrakt und durch eine Reihe von düsteren Gängen. Ihre Schritte hallten von den getünchten Wänden mit der abblätternden Farbe und den nackten Steinböden wider. Schließlich bogen sie um eine Ecke in ein schmales Treppenhaus, das zu einem kurzen Sackkorridor führte, in dem es feucht und erdig roch wie in einem alten Keller.
Aus einer offenen Tür auf der Hälfte des Ganges fiel grelles Licht. Ein Gefühl der Angst breitete sich in Wills Magengrube aus, als sie sich der Tür näherten. Und tatsächlich wurde er von seinem Wächter in den hell erleuchteten Raum gestoßen und abrupt zum Stehen gebracht. Von der strahlenden Helligkeit geblendet, kniff Will die Augen halb zusammen und sah sich um.
Der Raum war leer – bis auf einen bizarren Stuhl und einen Metalltisch, hinter dem zwei hoch aufragende Gestalten standen. Ihre hageren Körper waren leicht nach vorne gebeugt, sodass ihre Köpfe einander fast berührten, während sie sich in einem leisen, eindringlichen
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