Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
länger zurückhalten konnte.
Tam nickte, zündete seine Pfeife wieder an und stieß dabei dichte Rauchwolken aus, die seinen Kopf wie einen Dunstschleier umgaben. »Du hast ihn um etwa eine Woche verpasst. Er ist auf dem Weg in die Tiefen.«
»Er wurde in die Verbannung geschickt?« Will richtete sich kerzengerade auf, denn voller Sorge erinnerte er sich an den Begriff, den Cal kurz zuvor benutzt hatte.
»Nein, nein«, rief Tam und winkte mit der Pfeife ab. »Er ist freiwillig da runter! Merkwürdige Sache, das … allem Anschein nach ist er aus eigenem Antrieb aufgebrochen … ohne öffentliche Bekanntmachung … ohne Spektakel … nichts von dem üblichen Styx-Brimborium.« Onkel Tam zog kräftig an der Pfeife, runzelte die Stirn und blies den Rauch langsam aus. »Ich schätze, für die Leute hätte es wohl nicht viel zu sehen gegeben, kein Jammern und Klagen des Verurteilten.« Er starrte ins Feuer, die Augenbrauen noch immer gerunzelt, als wäre er von der ganzen Geschichte wirklich zutiefst verblüfft. »Vor seiner Abreise hat man ihn überall herumlaufen sehen; er hat eifrig Notizen gemacht … und die Leute mit verrückten Fragen belästigt. Ich vermute, die Styx haben gedacht, er wäre vielleicht …« Onkel Tam tippte sich an die Schläfe.
Großmutter Macaulay räusperte sich und warf ihm einen strengen Blick zu.
»… harmlos«, fing Tam sich gerade noch. »Das ist vermutlich auch der Grund, warum sie ihn einfach frei herumlaufen ließen. Aber du kannst Gift darauf nehmen, dass sie jeden seiner Schritte beobachtet haben.«
Will rutschte unbehaglich auf dem Perserteppich hin und her; es erschien ihm falsch, diesen gutmütigen und freundlichen Mann, der offenbar sein Onkel war, mit Fragen zu bombardieren, aber er konnte sich einfach nicht zurückhalten.
»Was genau sind die Tiefen?«, fragte er.
»Die Inneren Kreise, das Innere.« Onkel Tam deutete mit dem Pfeifenstiel auf den Boden. »Tief unter uns. Die Tiefen.«
»Eine ziemlich üble Gegend, oder?«, warf Cal ein.
»Ich war nie dort. Das ist kein Ort, wohin man sich freiwillig begibt«, sagte Onkel Tam und warf Will einen langen Blick zu.
»Aber was ist dort unten?«, hakte Will nach. Er wollte unbedingt mehr darüber erfahren, wohin sein Vater gegangen war.
»Also, etwa fünf Meilen weiter unten gibt es andere … na ja, ich schätze, man könnte sie als Siedlungen bezeichnen. Dort enden die Grubenzüge … dort, wo die Koprolithen leben.« Er zog geräuschvoll an seiner Pfeife. »Dort unten ist die Luft schwefelhaltig. Es ist zwar das Ende der Zuglinie, aber die Tunnel führen noch weiter in die Tiefe, Meilen und Abermeilen, wie es heißt. Es geht sogar die Sage von einer Inneren Welt, ganz weit unten im Zentrum, von alten Orten und antiken Städten, die noch größer sein sollen als die Kolonie.« Onkel Tam schnaubte verächtlich. »Ich schätze, das ist alles ziemlicher Blödsinn.«
»Aber ist schon mal jemand in diesen Tunneln gewesen?«, fragte Will und hoffte es inständig.
»Na ja, da gibt es ein paar Geschichten. Um das Jahr 220 oder so soll ein Kolonist nach Jahren in der Verbannung angeblich zurückgekehrt sein. Wie hieß er noch gleich? Abraham Dingsbums …«
»Abraham de Jaybo«, sagte Großmutter Macaulay leise.
Onkel Tam warf einen Blick zur Tür und senkte die Stimme. »Als man ihn am Grubenbahnhof gefunden hat, war er in einem fürchterlichen Zustand, am ganzen Körper mit Schnittwunden und blauen Flecken übersät, und seine Zunge fehlte – die hatte man ihm abgeschnitten, heißt es. Außerdem war er halb verhungert, sah aus wie ein wandelndes Skelett. Er hat dann auch nicht mehr lange gelebt; eine Woche später starb er an einer unbekannten Krankheit, die ihm das Blut aus Mund und Ohren herausquellen ließ. Natürlich konnte er nichts erzählen, aber manche Leute behaupten, er hätte Skizzen angefertigt, jede Menge Zeichnungen, während er auf seinem Totenbett lag und vor Angst kein Auge zubekam.«
»Was war auf den Zeichnungen zu sehen?«, fragte Will atemlos.
»Anscheinend alles Mögliche: Höllenmaschinen, seltsame Tiere und erstaunliche Landschaften … und vieles, das kein Mensch verstehen konnte. Die Styx behaupteten, dies alles sei nur die Ausgeburt einer kranken Fantasie, aber andere sind der Meinung, dass die Dinge, die Abraham de Jaybo gezeichnet hat, tatsächlich existieren. Bis zum heutigen Tag werden seine Skizzen im Gouverneurs-Gewölbe unter Verschluss gehalten … allerdings hat niemand, den ich
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