Tunnel - 02 - Abgrund
fortging, doch sie konnte sich nicht zu ihm umdrehen, obwohl sämtliche Instinkte ihr sagten, sie dürfe nicht gehen.
Sie verließ den Friedhof, lief willkürlich in eine Richtung und kämpfte gegen einen Schwindelanfall an. Mit jedem ihrer Schritte wurde das Gefühl stärker, sie befände sich in einem Irrgarten auf dem Jahrmarkt.
An das, was danach geschah, konnte Sarah sich kaum erinnern.
Sie erwachte aus ihrer Ohnmacht, weil irgendetwas sie anstupste. Als sie die Augen öffnete, schien ihr das Licht unerträglich hell ins Gesicht. Es war so gleißend, dass sie kaum die Frau erkennen konnte, die sich besorgt über sie gebeugt hatte und nun fragte, was ihr fehle. Sarah stellte fest, dass sie zwischen zwei geparkten Fahrzeugen ohnmächtig geworden war. Mit den Händen schirmte sie sich die Augen ab, rappelte sich dann auf und rannte fort.
Schließlich fand sie den Weg zum Friedhof zurück, blieb aber abrupt stehen, als sie die schwarz gekleideten Gestalten sah, die sich um ihn herumdrängten. Ihr erster Gedanke war, dass die Styx sie aufgespürt hatten, doch dann hatte sie trotz der tränenden Augen auf einem der umstehenden Wagen das Wort »Polizei« lesen können und sich vorsichtig davongeschlichen.
Seit jenem Tag hatte sie sich hunderttausend Mal gesagt, dass es so das Beste gewesen sei, dass sie nicht in der körperlichen Verfassung gewesen sei, sich um ein kleines Kind zu kümmern – ganz zu schweigen davon, mit ihm unterzutauchen. Doch diese Gedanken konnten das Bild des kleinen Jungen mit dem tränenüberströmten Gesicht nicht zerstreuen, der seine winzige Händchen nach ihr ausgestreckt und ihr wieder und wieder nachgerufen hatte, als sie in die kalte Nacht geflohen war.
Die winzigen Hände, die unsicher im Schein der Straßenlaternen winkten und nach ihr zu greifen versuchten.
Ein tiefer Schmerz durchzuckte sie, und sie krümmte sich wie ein schwer verletztes Tier, das sich zu einer Kugel zusammenrollt.
Ihre Gedanken waren so klar und lebendig, dass ein Passant auf dem Bürgersteig ihr einen Blick zuwarf und Sarah sich fragte, ob sie vielleicht versehentlich laut gesprochen hatte.
»Reiß dich zusammen«, ermahnte sie sich. Sie musste konzentriert, auf der Hut bleiben. Entschlossen schüttelte sie den Kopf, um das Bild des kleinen Gesichtchens aus ihren Gedanken zu vertreiben. Jedenfalls lag das Ganze nun schon lange zurück und genau wie die Gebäude um sie herum hatte sich auch alles andere unwiederbringlich verändert. Wenn die Nachrichten, die in dem toten Briefkasten auf sie gewartet hatten, der Wahrheit entsprachen – was sie aber noch immer nicht glauben konnte –, dann war aus Seth ein Junge namens Will geworden, jemand, der sich völlig anders entwickelt hatte.
Nach ein paar Kilometern gelangte Sarah zu einer belebten Straße mit Geschäften und einem wuchtigen, ziegelgemauerten Supermarkt. Als sie inmitten einer kleinen Menge vor einer Kreuzung stehen bleiben musste und darauf wartete, dass die Ampel umsprang, stöhnte sie innerlich auf. Sie fühlte sich unbehaglich und hüllte sich fester in ihren Mantel. Endlich leuchtete das grüne Männchen auf, begleitet von einem lauten Piepton, und Sarah schlängelte sich zwischen den mit Einkaufstüten beladenen Menschen hindurch über die Straße.
Als die Dichte der Geschäfte allmählich abnahm, setzte ein leichter Regen ein, der die Leute in die Häuser oder zu ihren Wagen eilen ließ, sodass sich die Straße rasch leerte. Sarah lief weiter, unbemerkt von anderen Passanten, die sie ihrerseits mit erfahrenem Blick weiterhin sorgfältig musterte. In ihrem Kopf hörte sie Tams Stimme, so deutlich, als würde er neben ihr gehen.
»Sehen, aber nicht gesehen werden. «
Eine Lektion, die er sie schon früh gelehrt hatte. Als Kinder hatten sie sich oft kühn über die Anweisungen ihrer Eltern hinweggesetzt und sich aus dem Haus geschlichen. Sie hatten sich mit alten Lumpen getarnt, sich das Gesicht mit einem angesengten Korken geschwärzt, ihr Schicksal in die eigene Hand genommen und sich tief in das übelste und gefährlichste Elendsviertel vorgewagt, das man in der gesamten Kolonie finden konnte – in die Rookeries. Selbst jetzt noch sah sie Tarn vor sich, wie er mit einem breiten Grinsen in seinem jugendlichen Gesicht und mit leuchtenden Augen neben ihr nach Hause gesaust war, nachdem ein weiteres ihrer Abenteuer gerade noch einmal gut gegangen war. Er fehlte ihr so sehr.
Plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken gerissen – ihr
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