Tunnel - 02 - Abgrund
ihre Hände zitterten. Sie drückte sie fest auf den Tisch und zerknüllte den Brief. Während sie sich bemühte, ihre Gefühle wieder in den Griff zu bekommen, sah sie sich verstohlen zu den anderen Gästen im Café um, in der Hoffnung, dass niemand sie beobachtet hatte. Aber die anderen Kunden – der Arbeitskleidung nach zu urteilen hauptsächlich Bauarbeiter – waren zu sehr mit ihrem Essen beschäftigt, um auch nur Notiz von ihr zu nehmen. Und der Cafébetreiber stand hinter der Glastheke und summte vor sich hin.
Sarah lehnte sich zurück und schaute sich im Raum um, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen. Sie betrachtete die Wandvertäfelungen aus Holzimitat und die verblichenen Poster einer jugendlich wirkenden Marilyn Monroe, die gegen einen großen amerikanischen Wagen lehnte. Im Hintergrund quasselte der Moderator einer Radiosendung, doch für sie war das Ganze nur ein unangenehmes Geplapper, dem sie keinerlei Beachtung schenkte.
Nach ein paar Minuten wischte sie einen kleinen Bereich der beschlagenen Fensterscheibe frei und schaute nach draußen. Es war noch immer zu früh … und zu hell. Daher beschloss sie, noch eine Weile im Café sitzen zu bleiben. Sie begann, mit ihrer Papierserviette zu spielen und in einer halb getrockneten Kaffeepfütze auf der zerkratzten roten Melamintischplatte herumzumalen. Nachdem der Kaffee verdunstet war und ihr damit jede Möglichkeit zur Beschäftigung genommen hatte, starrte sie einfach vor sich hin, als wäre sie in Trance gefallen. Als sie wenige Augenblicke später ruckartig wieder zu sich kam, bemerkte sie, dass einer ihrer Mantelknöpfe nur noch an einem dünnen Faden hing. Sie zog daran, und der Knopf löste sich vollends und landete in ihrer Hand. Ohne nachzudenken, ließ sie ihn in ihre leere Kaffeetasse fallen und starrte danach mit ausdruckslosem Gesicht auf die beschlagenen Scheiben und auf die schemenhaften Gestalten der Menschen, die an dem Café vorbeieilten.
Schließlich schlenderte der Cafébesitzer gemächlich herbei, wischte mit seinem schmuddeligen Lappen kurz über die leeren Tische und richtete die Stühle. Vor dem Fenster blieb er stehen, starrte genau wie Sarah ein paar Sekunden nach draußen und fragte sie dann, ob er ihr noch etwas bringen könne. Ohne ihn zu beachten, stand Sarah einfach auf und steuerte schnurstracks auf die Tür zu. Verärgert schnappte der Wirt sich ihre leere Kaffeetasse und entdeckte den weggeworfenen Knopf, den sie auf dem Boden der Tasse zurückgelassen hatte.
Das war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sie war keine Stammkundin, und auf diese Laufkundschaft, die seine Tische mit Beschlag belegte und so gut wie nichts verzehrte, konnte er gut verzichten.
»Geizkra …«, brüllte er ihr hinterher, brachte aber nur die ersten Silben von »Geizkragen« hervor, ehe ihm das Wort auf den Lippen erstarb.
Denn sein Blick war zufällig auf die zerkratzte Tischplatte gefallen. Er blinzelte und drehte den Kopf, als würde das Licht mit seinen Augen spielen. Von der roten Melaminoberfläche starrte ihm ein überraschend genaues, lebensechtes Bildnis entgegen.
Das etwa zehn Zentimeter große Gemälde zeigte ein Gesicht, das aus mehreren Schichten getrockneter Kaffeeflecken aufgebaut war, als hätte man es mit Temperafarbe angelegt. Allerdings sorgte nicht die künstlerische Vollendung des Porträts dafür, dass er reglos erstarrte, sondern vielmehr die Tatsache, dass der Mund zu einem erschütternden Schrei verzerrt war. Der Wirt blinzelte. Der Anblick war so beunruhigend und unerwartet, dass er sich mehrere Sekunden nicht von der Stelle rührte und einfach nur auf das Bild starrte. Es gelang ihm nicht, die stille, eher unscheinbare Frau, die gerade das Café verlassen hatte, mit diesem schockierenden Porträt eines großen Schmerzes in Verbindung zu bringen. Das Ganze gefiel ihm nicht, ganz und gar nicht, und er warf rasch den schmuddeligen Lappen darüber, um es wegzuwischen.
Wieder auf der Straße, versuchte Sarah, nicht zu schnell zu gehen, da sie noch immer reichlich Zeit zu überbrücken hatte. Ehe sie den Stadtteil Highfield erreichte, unterbrach sie ihre Reise, um sich ein Zimmer in einer Frühstückspension zu besorgen. In der Straße, die sie durchquerte, lagen gleich mehrere, doch sie wählte willkürlich eine Pension in einem heruntergekommenen viktorianischen Reihenhaus aus. Wenn sie überleben wollte, blieb ihr keine andere Vorgehensweise übrig.
Niemals zweimal das Gleiche.
Niemals
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