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Tunnel - 02 - Abgrund

Tunnel - 02 - Abgrund

Titel: Tunnel - 02 - Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Roderick & Williams Gordon
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Instinkt ließ sie wie eine schrill klingelnde Alarmglocke aufschrecken. Am Ende des Bürgersteigs war ein hagerer Jugendlicher in einer zerrissenen, fleckigen Bomberjacke aufgetaucht und marschierte direkt auf sie zu. Sarah ging unerschrocken weiter, wich keinen Millimeter von ihrem Kurs ab. Im letzten Moment wich der Jugendliche ihr aus, rammte sie aber hart mit dem Ellbogen und hustete ihr voll ins Gesicht. Sarah blieb wie angewurzelt stehen; ihre Augen glühten, als wären Flammen hinter ihnen entzündet worden. Der Jugendliche murmelte irgendetwas Unflätiges, während er weiterging. Auf dem Rücken seiner Jacke stand in brüchig weißen Großbuchstaben »ICH HASSE EUCH«. Nach ein paar Schritten spürte er wohl, dass Sarah ihm noch immer hinterherstarrte, denn er drehte sich halb zu ihr um und zog ein finsteres Gesicht.
    »Schlampe«, zischte er.
    Sarahs Körper spannte sich schlagartig an, wie ein zum Sprung bereiter Panther.
    Du mieses Stück Dreck, dachte sie, sagte aber nichts.
    Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wer sie war oder wozu sie fähig war. Er hatte gerade sein Leben riskiert. Ihre Blutgier war geweckt, und sie sehnte sich danach, ihm eine Lektion zu erteilen, die er nie wieder vergessen würde – sie sehnte sich so sehr danach, dass es schmerzte. Aber sie durfte sich diesen Luxus nicht erlauben, jedenfalls nicht in diesem Moment.
    »Ein anderes Mal, an einem anderen Ort …«, murmelte sie, während der Jugendliche in einer anmaßenden, schlaffen Haltung weitertrottete und mit den schäbigen Turnschuhen über den Bürgersteig schlurfte. Er schaute sich nicht mehr um, ahnte nicht einmal, wie knapp er seinem Schicksal entgangen war.
    Sarah blieb noch einen Moment stehen, sammelte sich und sondierte die feuchte Straße und den vorbeirasenden Verkehr. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr. Es war noch früh – sie war zu schnell gelaufen.
    Ein lauter Wortwechsel in einer ihr unverständlichen Sprache weckte ihre Aufmerksamkeit. Ein paar Häuser weiter verließen zwei Bauarbeiter ein Café, dessen beschlagene Scheiben von innen durch Neonröhren beleuchtet wurden. Ohne zu zögern, steuerte sie schnurstracks auf das Café zu und schlüpfte durch die Tür.
    An der Theke bestellte sie eine Tasse Kaffee, die sie sofort bezahlte und zu einem Platz am Fenster mitnahm. Während sie die dünne, fade schmeckende Flüssigkeit trank, holte sie den zerknitterten Brief aus der Manteltasche und las die schnörkellosen Zeilen erneut. Sie konnte sich noch immer nicht dazu überwinden, das Geschriebene zu glauben. Wie konnte es sein, dass Tarn tot sein sollte? Wie war das möglich? So schlimm ihre Lage in dieser Übergrundlerwelt auch sein mochte, hatte sie doch immer einen gewissen Trost aus der Tatsache gezogen, dass ihr Bruder noch lebte und es ihm in der Kolonie einigermaßen gut ging. Dieses Wissen war für sie wie eine flackernde Kerze am Ende eines unfassbar langen Tunnels – die Hoffnung, dass sie ihn eines Tages vielleicht doch wiedersehen würde. Mit seinem Tod war ihr auch dieser kleine Hoffnungsschimmer genommen worden.
    Sie drehte den Brief um und las die andere Seite; dann las sie sie erneut und schüttelte ungläubig den Kopf.
    Die Nachricht konnte nicht stimmen, Joe Waites musste sich geirrt haben. Wie konnte ihr eigener Sohn Seth, ihr Erstgeborener, der einst ihr ganzer Stolz gewesen war, Tarn an die Styx ausgeliefert haben? Ihr eigenes Fleisch und Blut sollte ihren Bruder praktisch ermordet haben. Und wenn das wirklich stimmte, wie hatte man ihn dann dazu überreden können? Was konnte ihn zu solch einem Verrat angetrieben haben? Doch auch der letzte Absatz des Briefs enthielt eine nicht weniger schockierende Nachricht. Sie las die Zeilen wieder und wieder, in denen stand, dass Seth ihren jüngsten Sohn Cal entführt und ihn gezwungen hätte, ihm zu folgen.
    »Nein«, sagte sie laut und schüttelte erneut den Kopf, als würde sie nicht akzeptieren, dass Seth schuldig sei. Und da war es wieder: Ihr Sohn hieß Seth und nicht Will, und er konnte unmöglich zu solch einer Handlung fähig sein. Obwohl der Brief aus einer absolut vertrauenswürdigen Quelle stammte, bestand zumindest die Möglichkeit, dass jemand daran herumgepfuscht hatte. Vielleicht wusste ja jemand von dem toten Briefkasten. Aber wie und warum? Und welchen Gewinn zog derjenige daraus, ihr eine gefälschte Nachricht zu hinterlassen? Das Ganze ergab für sie keinerlei Sinn.
    Plötzlich wurde Sarah bewusst, dass sie heftig atmete und

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