Tunnel - 02 - Abgrund
hatte – und von seinem dortigen Leben. Und er berichtete ihm, wie er und sein Onkel Tarn Chesters Flucht geplant hatten. »Es war schrecklich, dass plötzlich alles schiefging. Ich konnte es gar nicht glauben, als ich Rebecca bei den Styx sah …«
»Diese kleine Ratte!«, explodierte Chester. »Hast du nicht irgendwann mal das Gefühl gehabt, dass mit ihr was nicht stimmt? Während all der Jahre, in denen ihr zusammen aufgewachsen seid?«
»Also, ich habe sie für etwas merkwürdig gehalten, aber andererseits dachte ich, dass alle kleinen Schwestern so sind«, erklärte Will.
»Etwas merkwürdig?«, wiederholte Chester. »Sie ist eine totale Spinnerin. Du musst doch gewusst haben, dass sie nicht deine richtige Schwester ist, oder?«
»Nein, wieso sollte ich? Ich … ich wusste doch nicht einmal, dass ich selbst adoptiert war oder woher ich ursprünglich komme.«
»Kannst du dich denn nicht mehr an den Tag erinnern, als deine Eltern sie zum ersten Mal mit nach Hause gebracht haben?«, fragte Chester leicht verblüfft.
»Nein«, erwiderte Will nachdenklich. »Ich muss damals ungefähr vier Jahre alt gewesen sein. An wie viele Dinge aus deiner frühen Kindheit erinnerst du dich denn noch?«
Chester machte ein Geräusch, als wäre er nicht vollständig überzeugt, dann fuhr Will mit seiner Schilderung fort. Während er neben Will hertrottete, hörte Chester aufmerksam zu. Schließlich erreichte Will den Punkt, an dem er und Cal mit Imago überlegt hatten, ob sie nach Übergrund zurückkehren oder sich in die Tiefen hinabwagen sollten.
Chester nickte.
»Und so sind wir schließlich in dem Grubenzug gelandet«, beendete Will seine Erzählung.
»Oh Mann, ich bin froh, dass du dich so entschieden hast«, sagte Chester lächelnd.
»Ich konnte dich doch nicht einfach zurücklassen«, erklärte Will. »Ich musste doch sichergehen, dass mit dir alles in Ordnung ist. Das war das Mindeste, was ich …«
Will versagte die Stimme. Er versuchte, seine Gefühle in Worte zu fassen, seine Gewissensbisse wegen all der Dinge, die Chester hatte durchmachen müssen.
»Sie haben mich geschlagen«, sagte Chester abrupt.
»Was?«
»Nachdem sie mich wieder geschnappt hatten«, fügte er so leise hinzu, dass Will ihn kaum verstehen konnte. »Sie haben mich zurück in die Zelle geworfen und mich mit Stöcken geschlagen …«, fuhr er fort. »Und Rebecca hat zugesehen.«
»Oh Gott«, murmelte Will.
Eine Weile schwiegen beide, während sie ihren Weg über die massiven Bahnschwellen fortsetzten.
»Haben sie dich sehr übel zugerichtet?«, fragte Will schließlich und fürchtete sich vor der Antwort.
Chester reagierte nicht sofort. »Sie waren furchtbar wütend auf uns … vor allem auf dich. Sie sind ziemlich ausfallend geworden und haben rumgeschrien, du würdest sie wie Idioten dastehen lassen.« Chester räusperte sich leise und schluckte. »Es war … ich … sie …« Seine Worte klangen zunehmend verwirrter und er holte tief Luft. »Ich musste ständig daran denken, welch furchtbare Strafe sie sich noch für mich ausdenken würden.« Er schwieg einen Moment und wischte sich die Nase. »Und dann verurteilte mich dieser alte Styx zu einem Leben in der Verbannung, was schlimmer war als alles andere. Ich hab solche Angst gehabt, dass ich vollkommen zusammengebrochen bin.« Chester senkte den Blick, als hätte er etwas Falsches getan, etwas, wofür er sich schämen müsste.
Nach einem Moment fuhr er fort, doch nun schlich sich eine eiserne Entschlossenheit in seine Stimme, ein Ausdruck eisiger, beherrschter Wut. »Weißt du, Will, wenn ich gekonnt hätte, hätte ich sie getötet … die Styx. Ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht. Das sind miese Drecksschweine … alle, ohne Ausnahme. Ich hätte sie getötet, sogar Rebecca. « Er starrte seinen Freund so intensiv an, dass es Will einen Schauer über den Rücken jagte. Zum ersten Mal lernte er an Chester eine Seite kennen, die er nie für möglich gehalten hätte.
»Es … es tut mir so leid, Chester.«
Doch im nächsten Moment dämmerte Chester eine nicht weniger wichtige Erkenntnis und brachte ihn auf einen anderen Gedanken. Abrupt blieb er stehen und verharrte schwankend auf der Stelle, als hätte man ihn ins Gesicht geschlagen. »Du hast mir eben etwas über die Styx erzählt … über die Styx und ihre … wie heißen die noch mal … ihre Leute an der Erdoberfläche?«
»Späher«, half Will aus.
»Genau … ihre Späher …« Er kniff die Augen zu Schlitzen
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