Tunnel - 02 - Abgrund
schneller voranzukommen. Allerdings trug er noch seinen Ausrüstungsgürtel. Elliott nahm ihm ab und warf ihn in hohem Bogen zum Gewehr.
Als sie den Inhalt seiner Jackentaschen untersuchte, stieß sie auf ein zusammengefaltetes Stück Papier. Da sie es für eine Landkarte hielt, entfaltete sie es sofort und hinterließ dabei Flecken vom Blut des Grenzers, das sie an den Händen hatte. Es handelte sich jedoch um ein Flugblatt, das auf irgendeine Feier hinwies – sie hatte so etwas schon einmal in der Kolonie gesehen. Das größte Bild in der Blattmitte zeigte eine Frau, um die herum vier kleinere Abbildungen in Medaillons arrangiert waren. Elliott überflog die Bilder rasch, als ihr plötzlich etwas anderes ins Auge fiel.
Am unteren Rand befand sich ein fünftes Bild, das aussah, als sei es erst später hinzugefügt worden, da jemand es mit Bleistift gezeichnet hatte. Dieses Bild war äußerst sonderbar. Elliott musterte es befremdet und konnte nicht glauben, was sie dort sah.
Der Junge auf der Zeichnung war Will wie aus dem Gesicht geschnitten. Allerdings wirkte er auf dem Bild besser gekleidet, mit ordentlich geschnittenen Haaren.
Sie betrachtete es genauer und hielt ihre Lampe näher an das Papier. Es war tatsächlich Will, aber da gab es noch etwas, das ihr den Atem stocken ließ: Um seinen Hals hing ein Galgenstrick, dessen anderes Ende in Form eines Fragezeichens über seinem Kopf schwebte.
Und hinter ihm stand eine schemenhafte, weniger klar umrissene Gestalt, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Cal aufwies. Während Will, der wohl kurz davor stand, gehängt zu werden, niedergeschlagen wirkte, lächelte die zweite Gestalt gelassen. Die Mienen auf den beiden Gesichtern standen in krassem Gegensatz zueinander – eine äußerst beunruhigende Kombination.
Elliott studierte den Rest des Flugblatts und betrachtete erneut die große Abbildung der Frau, als ihr Blick auf einen Namen innerhalb eines flatternden Wimpels fiel:
Sarah Jerome.
Sofort beugte Elliott sich über die Leiche und drehte deren Kopf, um das Gesicht sehen zu können. Trotz des vielen Bluts von der Kopfverletzung sah sie auf den ersten Blick, dass es kein Grenzer sein konnte.
Es war eine Frau!
Mit langem braunem, zurückgekämmtem Haar.
Es gab keine weiblichen Grenzer! So etwas war noch nie da gewesen – Elliott wusste das besser als jeder andere.
In diesem Augenblick erkannte sie, wen sie vor sich hatte. Wen sie getötet hatte.
Wills und Cals Mutter … es war Sarah Jerome.
Elliott drehte den Kopf der Leiche wieder zur Seite und überlegte, ob sie das Gesicht bedecken sollte, falls einer der Jungen näher kam.
»Brauchst du Hilfe?«, rief Will in dem Moment.
»Äh … nein«, erwiderte Elliott, »nein, bleib einfach, wo du bist.«
»Es ist ein Styx, richtig?«, erkundigte Will sich mit leicht zitternder Stimme.
»Ich glaube schon«, entgegnete Elliott nach kurzem Zögern.
Erneut schaute sie auf den blutüberströmten Kopf und überlegte, ob sie es Will sagen sollte. Sofort kehrte die schmerzhafte Erinnerung an ihr Zuhause in der Kolonie zurück und an den herzzerreißenden Augenblick, als sie gezwungen gewesen war, ihre Mutter zu verlassen – in dem Wissen, dass sie sie höchstwahrscheinlich nie wiedersehen würde.
Hin und her gerissen betrachtete Elliott ein weiteres Mal das Stück Papier. Sie konnte dieses Geheimnis nicht für sich behalten. Mit einer derartigen Last auf ihrem Gewissen würde sie nicht leben können.
»Will, Cal, kommt mal her!«
»Klar doch«, rief Will und trabte zu ihr herüber. »Du hast den Mistkerl echt erwischt«, sagte er und musterte die Leiche beklommen.
»Das solltet ihr euch mal anschauen«, sagte Elliott rasch und drückte ihm das Flugblatt in die Hand.
Will überflog hastig die Abbildungen, wobei der Wind kräftig an dem Blatt in seinen Händen zerrte. Als er die Zeichnung von sich am unteren Blattrand erkannte, schüttelte er ungläubig den Kopf. »Was ist das denn?« Dann fiel sein Blick auf den Namen am oberen Rand. »Sarah … Sarah Jerome«, las er laut vor. Er wandte sich an Chester. »Sarah Jerome?«, wiederholte er.
»Ist das nicht deine Mutter?«, fragte Chester und beugte sich vor, um das Flugblatt ebenfalls in Augenschein zu nehmen.
Elliott kniete sich neben die Leiche. Ohne ein Wort zu sagen, drehte sie ganz sanft den Kopf und schob das feuchte Haar beiseite, um das Gesicht freizulegen. Dann stand sie auf. »Ich dachte, es wäre ein Grenzer, Will.«
»Oh Gott! Sie ist es! Sie
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