Tunnel - 02 - Abgrund
Holzkiste und warf einen Blick hinein. »Da sind ja noch mehr! Wenn sie alle nach demselben Prinzip funktionieren, kann ich für jeden von uns eine Styx-Laterne bauen.«
»Cool«, sagte Chester.
»Also …«, setzte Will an, als ihm ein Gedanke kam. »Dann war dieses Haus hier also für die Styx bestimmt, obwohl es so viel tiefer in der Erde liegt als die Kolonie!«
»Ja«, bestätigte Cal, »aber ich dachte, das hättest du gewusst!« Er verzog das Gesicht, als hätte diese Tatsache nun wirklich die ganze Zeit und für jedermann sichtbar auf der Hand gelegen. »Die Styx haben hier gelebt. Und die Koprolithen wurden in den Hütten draußen gehalten.«
Will und Chester tauschten einen Blick.
»Gehalten? Wofür?«, fragte Will.
»Als Sklaven. Man hat sie mehrere Jahrhunderte lang gezwungen, alles, was die Kolonie benötigte, aus den Tiefen zu fördern. Heute ist das anders – sie machen diese Arbeit freiwillig, im Tausch gegen Nahrung und Leuchtkugeln, die sie zum Überleben benötigen. Die Styx zwingen sie jetzt nicht mehr zur Arbeit so wie früher.«
»Wie nett von ihnen«, sagte Will trocken.
11
Mrs Burrows saß im Aufenthaltsraum des Humphrey House, einer Einrichtung, die sich in den Broschüren als »Refugium« anpries – »ein Ort der Ruhe«, der seinen Bewohnern eine »Erholungspause von den täglichen Sorgen und Nöten« bot. Der Aufenthaltsraum war Mrs Burrows’ Revier. Sie hatte sich den größten und bequemsten Sessel sowie den einzigen Fußschemel erobert und eine Tüte Bonbons zwischen die Polster geklemmt, um sich während ihrer nachmittäglichen Fernsehsitzungen bei Kräften zu halten. Es war ihr gelungen, einen der Krankenpfleger dazu zu überreden, dass er ihr regelmäßig Süßigkeiten aus der Stadt mitbrachte – welche sie natürlich so gut wie nie mit anderen Patienten teilte.
Als der Abspann ihrer Lieblingsseifenoper einsetzte, zappte sie wild durch die anderen Sender, auf der Suche nach irgendetwas Sehenswertem, konnte aber nichts finden, das sie auch nur im Entferntesten interessiert hätte. Zutiefst frustriert drückte sie wütend auf die Stummtaste der Fernbedienung und ließ den Kopf gegen die Rückenlehne sinken. Sie vermisste ihre umfangreiche Mediothek mit Filmen und Lieblingssendungen so sehr, wie ein normaler Mensch vielleicht den Verlust eines Arms betrauert hätte.
Resigniert stieß sie einen langen, kummervollen Seufzer aus, und ihre Verärgerung wich einem unbestimmten Gefühl der Hilflosigkeit. Als sie gerade die Titelmelodie einer Krankenhaussoap angestimmt hatte und in einer Mischung aus Trauer und Verzweiflung vor sich hin summte, flog die Tür auf.
»Jetzt geht das schon wieder los«, murmelte Mrs Burrows, als die Oberschwester in den Raum stürmte.
»Was ist denn, meine Liebe?«, hakte die Oberschwester nach, eine spindeldürre Frau, deren graue Haare zu einem strengen Knoten zusammengebunden waren.
»Ach, nichts«, erwiderte Mrs Burrows mit Unschuldsmiene.
»Hier ist jemand, der Sie sprechen möchte.« Die Oberschwester war direkt zum Fenster marschiert und riss nun die schweren Vorhänge auf, sodass Tageslicht in den Raum strömte.
»Besuch? Für mich?«, fragte Mrs Burrows wenig begeistert und schirmte die Augen vor dem gleißenden Licht ab. Ohne den Sessel zu verlassen, fischte sie mit den Füßen nach ihren Hausschuhen, einem billigen und fleckigen Paar abgelatschter Mokassins aus Lederimitat. »Wird wohl kaum jemand von der Familie sein – ist ja eh fast niemand mehr übrig«, murmelte sie schwermütig. »Und ich nehme nicht an, dass Jean extra ihre Hufe geschwungen hat, um meine Tochter hierherzubringen … seit letztem Herbst hab ich von beiden keinen Ton mehr gehört.«
»Es ist kein Familienmitglied …«, versuchte die Oberschwester ihr mitzuteilen, doch Mrs Burrows ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.
»Und was meine andere Schwester betrifft … Bessie … na ja, wir reden schon lange nicht mehr miteinander …«
»Es ist niemand von Ihrer Familie, sondern eine Dame vom Sozialamt«, gelang es der Oberschwester einzuwerfen, während sie eines der Flügelfenster öffnete und »Schon viel besser« murmelte.
Auf diese Information reagierte Mrs Burrows erst einmal gar nicht. Die Oberschwester richtete ein paar Blumen in einer Vase auf der Fensterbank, sammelte mehrere herabgefallene Blütenblätter auf und drehte sich dann zu ihr um. »Und wie geht es uns heute?«
»Ach, nicht so gut«, erwiderte Mrs Burrows, in einem theatralisch
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