Tunnel - 02 - Abgrund
Ecke hocken blieben, wo sie ungestört stundenlang Trübsal blasen konnten. Doch Mrs Burrows hatte auch schon miterlebt, welch ziemlich erschreckende Wandlung diese Leute durchmachen konnten, meistens nach Anbruch der Dunkelheit. Sobald das Licht ausging, erfuhren sie eine Art Metamorphose: Wie eine Raupe, die sich in einen weichen Kokon hüllt, um dann später als ein völlig anderes Wesen daraus hervorzugehen, verwandelten sie sich ohne Vorwarnung in Kreischer, die sich bevorzugt in den frühen Morgenstunden betätigten.
Dann schrien und heulten diese normalerweise nicht gewalttätigen Patienten und warfen in ihren Zimmern mit Gegenständen um sich, bis eine Schwester kam und beruhigend auf sie einredete oder die eine oder andere Tablette verabreichte. Und meistens verwandelten sich die Kreischer im Morgengrauen wie durch ein Wunder wieder in Greiner.
Dann waren da noch die Zombies, die umherwanderten wie ahnungslose Statisten an einem Filmset. Sie schienen nicht zu wissen, was sie tun oder wohin sie gehen sollten, und konnten keinen einzigen ihrer Sätze behalten – ein vernünftiger Gedankenaustausch war mit ihnen so gut wie ausgeschlossen. Mrs Burrows ignorierte diese Leute weitgehend, wenn sich ihre Wege mit den ziellosen Wanderungen der Zombies kreuzten.
Doch die mit Abstand schlimmste Gruppe waren die Schlipsträger: jene schrecklichen Exemplare von Angestellten in mittleren Jahren, die dem extremen Druck in ihren Berufen – meistens im Bank- und Rechnungswesen oder ähnlich bedeutungslosen Branchen – nicht mehr gewachsen waren und einen Zusammenbruch erlitten hatten.
Mrs Burrows verabscheute diese Nadelstreifenfälle von ganzem Herzen, vermutlich weil ihr Gehabe und ihre ausdruckslosen Gesichter sie so sehr an ihren Mann, Roger Burrows, erinnerten. Die ersten Warnzeichen, die darauf hindeuteten, dass auch er in diese Richtung abdriftete, hatte sie bemerkt, kurz bevor er sich aus dem Staub gemacht hatte, Gott weiß, wohin.
Denn Mrs Burrows hasste ihren Mann abgrundtief.
Selbst die ersten Jahre ihrer Ehe waren nicht harmonisch verlaufen. Die Unfähigkeit, gemeinsam Kinder in die Welt zu setzen, hatte schon bald einen Schatten auf ihre Beziehung geworfen. Und der ganze Zirkus, der mit einer Adoption einherging, hatte dazu geführt, dass sie sich nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren konnte und gezwungen gewesen war, ihre Stelle aufzugeben. Ein weiterer Traum, der den Bach hinunterging. Nachdem ihr Adoptionsantrag erfolgreich gewesen und es ihnen gelungen war, zwei kleine Kinder – einen Jungen und ein Mädchen – anzunehmen, hatte sie sich bemüht, ihnen all das zu geben, was sie während ihrer eigenen Kindheit gehabt hatte, das ganze Drum und Dran, von teurer Kleidung bis hin zu Kontakten in die richtigen Kreise.
Doch das hatte sich als unmöglich herausgestellt. Nach jahrelangen vergeblichen Versuchen, ihre Familie in etwas zu verwandeln, was sie niemals sein konnte -jedenfalls nicht bei Dr. Burrows’ magerem Gehalt –, hatte sie das Handtuch geworfen, die Augen vor ihrer Umgebung und ihrer Situation geschlossen und Trost in den Welten auf der anderen Seite des Fernsehbildschirms gesucht. In diesem unwirklichen, mit Scheuklappen versehenen Zustand hatte sie ihr »Amt« als Mutter niedergelegt und die Verantwortung für das Haus, für die Wäsche, das Einkaufen und Kochen, einfach für alles an ihre Tochter Rebecca übertragen – die diese Aufgaben mit erstaunlicher Leichtigkeit übernahm, wenn man bedachte, dass sie damals gerade einmal sieben Jahre alt gewesen war.
Dabei hatte Mrs Burrows nicht die geringste Reue oder Schuld verspürt, weil ihr Mann seinen Teil der Vereinbarung schon von Beginn ihrer Ehe an nicht eingehalten hatte. Und dann hatte Dr. Burrows, dieser chronische Verlierer, auch noch die Frechheit besessen, sie sitzen zu lassen und ihr selbst das Wenige zu nehmen, was ihr noch geblieben war.
Er hatte ihr zerstörtes Leben vollends zugrunde gerichtet.
Dafür hasste sie ihn. Und dieser Hass brodelte in ihr, nie weit unterhalb der Oberfläche.
»Ihr Besuch wartet«, drängte die Oberschwester erneut.
Mrs Burrows nickte, riss sich von den bewegten Bildern auf dem Fernseher los und erhob sich matt aus ihrem Sessel. Dann schlurfte sie aus dem Raum und ließ die Oberschwester allein zurück, die ein paar Schachteln mit Puzzlespielen auf dem Sideboard ordentlich stapelte. Eigentlich wollte Mrs Burrows niemanden sehen, schon gar keine Sozialarbeiterin, die unerwünschte
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