Tunnel - 02 - Abgrund
da?«
»Mein Bruder ist tot! Will hat ihn umgebracht!«, schluchzte Sarah, und Tränen schossen ihr in die Augen. Es schien, als hätte das Treffen mit Mrs Burrows ihr das letzte fehlende Stück eines Puzzlebilds geliefert, das nun die scheußlichste Szenerie zeigte, die sie sich vorstellen konnte. Aus Sarahs Gefühlsausbruch sprach eine solch erschreckende Gewissheit, dass Mrs Burrows kaum Grund hatte, an ihren Worten zu zweifeln. Oder zumindest daran, dass Sarah heilig davon überzeugt war.
Mrs Burrows begann zu zittern – zum ersten Mal in ihrem Leben war sie aus dem Konzept gebracht worden. Warum beschuldigte diese Frau Will des Mordes? Und warum nannte sie ihn Seth? Diese ganze Geschichte erschütterte sie mehr als die vorzeitige Absetzung einer vielversprechenden, spannenden neuen Seifenoper. Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. Die Verwirrung spiegelte sich auf ihrem Gesicht, als sie die Hand vom Alarmknopf nahm und Sarah flehentlich entgegenstreckte.
»Will … hat … deinen Bruder ermordet? Aber wie …?«, stotterte Mrs Burrows, während sie versuchte, einen Sinn hinter Sarahs Worten zu erkennen. Doch Sarah warf der älteren Frau nur noch einen letzten vernichtenden Blick zu und stürmte aus dem Raum. Sie rannte den Flur hinunter, wo ihr zwei stämmige Pfleger entgegenkamen und an ihr vorbeisprinteten.
Die beiden Männer eilten in die Richtung, aus der die hohen, schrillen Schreie stammten, hielten aber abrupt inne, als sie Sarah regelrecht fliehen sahen – unsicher, ob sie nicht lieber ihr nachsetzen sollten.
Doch Sarah gab ihnen keine Gelegenheit, sich eines Besseren zu besinnen: Sie flitzte um eine Ecke, wobei ihre Schuhe quietschend über das spiegelglatt gebohnerte Linoleum schlitterten – sie war nicht bereit, sich durch irgendjemanden oder irgendetwas aufhalten zu lassen. Die Pfleger sahen sich achselzuckend an und liefen dann in ihre ursprüngliche Richtung weiter.
Wenige Sekunden später riss Sarah die Glastür zum Foyer auf. Als sie die Eingangshalle betrat, bemerkte sie eine Überwachungskamera an der Wand, die direkt auf sie gerichtet war. Verdammt! Rasch senkte sie den Kopf, doch sie wusste, es war bereits zu spät.
Die Dame an der Rezeption war dieselbe, die Sarah bei ihrer Ankunft in das Besucherregister eingetragen hatte. Sie telefonierte gerade, ließ den Hörer aber sofort fallen, als sie Sarah hinausstürmen sah.
»Alles in Ordnung, Miss O’Leary? Was ist passiert?«
Als Sarah sie ignorierte, erkannte die Empfangsdame, dass irgendetwas nicht stimmte, und sprang von ihrem Stuhl auf. »He, warten Sie! Bleiben Sie stehen!«
Während die Empfangssekretärin ihr weiterhin hinterherrief, rannte Sarah über den Parkplatz und dann die Auffahrt hinunter. Sie verringerte ihr Tempo erst, als sie die Hauptstraße erreicht hatte, und als sie einen Bus sah, sprang sie rasch hinein. Sie musste unbedingt aus dem Viertel verschwinden, falls die Sekretärin die Polizei verständigt hatte.
Sie setzte sich in die letzte Reihe des Busses, weit von den anderen Passagieren entfernt, und versuchte angestrengt, ihre Atmung wieder zu beruhigen. Ihre Gedanken und Gefühle wirbelten durcheinander. Während all der Jahre in Übergrund hatte sie noch nie so viel von sich selbst preisgegeben wie jetzt – und auch noch ausgerechnet gegenüber Mrs Burrows. Sie hätte ihre Deckung niemals aufgeben dürfen; sie hätte die Ruhe bewahren müssen. Das Ganze war schrecklich schiefgelaufen. Was war nur in sie gefahren? Was zum Teufel hatte sie sich nur dabei gedacht?
Die Erinnerung an den Vorfall ließ ihr das Blut in den Ohren rauschen. Einerseits war sie wegen ihres Mangels an Selbstbeherrschung furchtbar wütend auf sich selbst, und andererseits bedrückte sie das fruchtlose Gespräch mit dieser lächerlichen Frau, die so lange ein wichtiger Bestandteil im Leben ihres Sohnes gewesen war … die das Privileg gehabt hatte, ihn aufwachsen zu sehen … und die die Verantwortung dafür trug, was aus ihm geworden war. Sie hatte Mrs Burrows Dinge an den Kopf geworfen, die sie selbst lange nicht hatte glauben wollen – dass Seth tatsächlich ein Verräter und ein Mörder sein könnte.
Nachdem der Bus sie wieder in Highfield abgesetzt hatte, verfiel sie auf den letzten Metern zum Brachland neben der Mülldeponie in einen leichten Trab – sie konnte einfach nichts dagegen machen. Als sie die Erdhöhle erreichte und die Abdeckung beiseiteschob, hatte sie ihre Fassung halbwegs wiedererlangt. Rasch ließ sie sich
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