Tunnel - 02 - Abgrund
miteinander verbunden waren.
»Ich nehme an, dass du ihn suchst«, platzte Mrs Burrows schließlich heraus. »Denn sonst wärst du wohl kaum hier aufgetaucht«, sinnierte sie und hob eine Augenbraue wie ein Fernsehkommissar, der eine entscheidende Entdeckung gemacht hat. »Oder bist du vielleicht sogar für sein Verschwinden verantwortlich?«
»Ich habe nichts mit seinem Verschwinden zu tun. Sie müssen verrückt sein.«
Mrs Burrows schnaubte. »Ach … verrückt soll ich sein … und deswegen bin ich auch in dieser schrecklichen Anstalt?«, stieß sie melodramatisch hervor und rollte mit den Augen wie eine verängstigte Stummfilmheldin. »Oh, du meine Güte!«
»Lassen Sie mich jetzt bitte durch«, sagte Sarah höflich, aber entschieden und ging einen weiteren Schritt auf sie zu.
»Nicht so hastig«, erwiderte Mrs Burrows. »Vielleicht wolltest du Will ja auch einfach zurückhaben?«
»Nein …«
»Vielleicht bist du ja diejenige, die ihn entführt hat?«, stieß Mrs Burrows vorwurfsvoll hervor.
»Nein, ich …«
»Auf jeden Fall steckst du irgendwie in der Sache mit drin. Aber ich sag dir eines: Halt dich gefälligst aus meinen Angelegenheiten raus. Das ist meine Familie!« Mrs Burrows zog ein finsteres Gesicht. »Sieh dich doch mal an. Du wärst doch überhaupt nicht in der Lage, eine Mutter zu sein – ganz egal von wem!«
Jetzt riss Sarah die Geduld.
»Ach wirklich?«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und was genau hast du jemals für ihn getan?«
Eine Woge des Triumphs breitete sich auf Mrs Burrows’ Gesicht aus. Sie hatte Sarah aus der Deckung getrieben. »Was ich jemals für ihn getan habe? Ich habe mein Bestes gegeben. Du bist diejenige, die ihn einfach im Stich gelassen hat«, knurrte sie, nicht ahnend, dass Sarah gegen den fast unwiderstehlichen Drang ankämpfte, sich auf sie zu stürzen und sie zu töten. »Warum hast du ihn nicht schon vorher besucht? Wo hast du dich all die Jahre versteckt?«
»Zur Hölle mit dir!«, explodierte Sarah, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus abgrundtiefer Verachtung und fast gewalttätigem Groll.
Doch Mrs Burrows ließ sich dadurch nicht aus dem Konzept bringen. Sie ging einen Schritt zur Seite, jedoch nicht aus Furcht, sondern um ihre Hand auf den großen roten Alarmknopf an der Wand zu legen. Sarah stand der Weg nach draußen nun offen; sie stürmte auf die Tür zu und drehte den Türknauf. Als sie sie einen Spalt geöffnet hatte, drangen vom Flur laute Stimmen in den Raum, gefolgt von einem fürchterlichen Krawall und hysterischem Geschrei. Mrs Burrows wusste sofort, dass die innere Uhr eines der Kreischer versagt haben musste – normalerweise sparten sie sich ihre Anfälle für die frühen Morgenstunden auf.
Einen winzigen Moment ließ Sarah sich von dem Lärm ablenken, dann konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Mrs Burrows, deren Hand noch immer über dem roten Knopf schwebte.
Sarah sah sie grimmig an und schüttelte den Kopf. »Das willst du nicht wirklich!«, stieß sie drohend hervor.
Mrs Burrows lachte freudlos. »Ach, nein? Dann sag ich dir mal, was ich wirklich will: Ich will, dass du hier verschwindest …«
»Da kann ich dich beruhigen. Ich bin so gut wie weg«, fiel Sarah ihr ins Wort.
»… und nie wieder auch nur einen Fuß in dieses Haus setzt!«
»Keine Sorge … Ich hab alles gesehen, was ich sehen wollte«, erwiderte Sarah bissig und riss die Tür so heftig auf, dass sie gegen die Wand mit den bizarren Malereien flog und die Fensterscheiben vibrierten. Sarah ging einen Schritt nach draußen, hielt dann aber in der Tür inne, weil ihr bewusst geworden war, dass sie noch längst nicht alles gesagt hatte, was sie hatte sagen wollen. Und in der Hitze des Gefechts stellte sie fest, dass sie sich endlich etwas eingestehen konnte, was sie lange zu unterdrücken versucht hatte: die Möglichkeit, dass Joe Waites’ Nachricht tatsächlich der Wahrheit entsprach und dass sich alles genau so ereignet hatte, wie er es beschrieben hatte.
»Was hast du eigentlich mit Seth angestellt, dass er …«
»Seth?«, unterbrach Mrs Burrows sie scharf.
»Nenn ihn, wie du willst, Seth oder Will – das spielt keine Rolle. Du hast ihn in einen verkorksten … in einen bösartigen Jungen verwandelt!«, schrie sie Mrs Burrows ins Gesicht. »In einen gemeingefährlichen Mörder!«
»Einen Mörder?«, fragte Mrs Burrows und wirkte plötzlich deutlich weniger selbstsicher. »Was zum Teufel redest du
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