Tunnel - 02 - Abgrund
auch nur die geringste Ahnung, wohin sie verschwunden sind. Sie wissen ja sicher, dass mein Mann mich verlassen hat und dass mein Sohn kurz danach verschwunden ist, wie vom Erdboden verschluckt«, erklärte sie trostlos. »Er wurde zwar ein paarmal gesichtet – sogar mehrfach in Highfield. Und die Videoaufzeichnungen einer Überwachungskamera aus einer der U-Bahn-Stationen zeigen einen Jugendlichen, der entfernt an Will erinnert … in Begleitung eines anderen Jungen … zusammen mit einem großen Hund.«
»Ein großer Hund?«, warf Sarah ein.
»Ja, ein Schäferhund oder irgend so was.« Mrs Burrows schüttelte den Kopf. »Aber die Polizei meint, sie kann Wills Identität in keinem Fall bestätigen.« Sie seufzte resigniert. »Und meine Tochter Rebecca ist bei meiner Schwester, aber ich hab seit Monaten nichts mehr von ihr gehört.« Mrs Burrows senkte die Stimme zu einem Flüstern; ihr Gesicht wirkte ausdruckslos und undurchdringlich. »Alle, die ich kenne, sind fort … vielleicht haben sie ja alle einen besseren Ort zum Leben gefunden.«
»Das Ganze tut mir wirklich sehr, sehr leid für Sie«, sagte Sarah in einem sanften, tröstlichen Ton. »Ihr Sohn … glauben Sie, er hat sich auf die Suche nach Ihrem Mann gemacht? Irgendwo habe ich gelesen, dass der ermittelnde Beamte diese Möglichkeit zumindest nicht ausschließen möchte …«
»Das traue ich Will glatt zu«, erwiderte Mrs Burrows, den Blick noch immer auf das Fenster gerichtet, hinter dem jemand den halbherzigen Versuch unternommen hatte, einige kränklich wirkende Kletterrosentriebe an der billigen Kunststoffpergola direkt unter dem Fenster festzubinden. »Es würde mich jedenfalls nicht überraschen.«
»Also haben Sie nichts mehr von Ihrem Sohn gehört … seit … seit letztem November?«
»Nein, das ist noch länger her«, seufzte Mrs Burrows.
»In welcher … in welcher geistigen Verfassung war er denn, ehe er verschwand?«
»Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen – damals war ich selbst nicht bei bester Gesundheit und ich …« Mrs Burrows unterbrach sich mitten im Satz und schaute vom Rosengarten wieder zu Sarah. Plötzlich änderte sich ihre gesamte Körperhaltung, als würde ihr ein Licht aufgehen, und ihre Stimme nahm wieder den für sie typischen ungeduldigen, patzigen Ton an: »Warum stellen Sie mir all diese Fragen? Das muss doch alles in Ihren Unterlagen stehen …« Sie setzte sich kerzengerade auf und straffte die Schultern, während sie Sarah intensiv musterte.
Auch Sarah war die veränderte Stimmung der älteren Frau nicht entgangen. Sofort brach sie den Augenkontakt ab und tat so, als würde sie in ihren Notizen blättern. Dann wartete sie ein paar Sekunden und fuhr mit möglichst ausdrucksloser und ruhiger Stimme fort.
»Ach, das ist ganz einfach. Ihr Fall ist neu für mich und es würde mir sehr helfen, ein paar Hintergrundinformationen zu bekommen. Es tut mir leid, wenn dieses Gespräch für Sie so schmerzhaft ist.«
Sarah konnte spüren, wie Mrs Burrows’ Augen sich in sie bohrten – als würde sie sie mit zwei Röntgenstrahlen durchleuchten. Langsam setzte Sarah sich auf. Ihr äußeres Erscheinungsbild wirkte entspannt, doch innerlich wappnete sie sich gegen den nächsten Schlag, der auch keine Sekunde auf sich warten ließ.
»O’Leary … das ist ein irischer Name, stimmt’s? Aber Sie haben überhaupt keinen irischen Akzent.«
»Nein, meine Familie ist bereits in den Sechzigerjahren nach London umgesiedelt. Ich fahre nur gelegentlich noch auf die Insel, zu Familienfeiern …«
Doch Mrs Burrows ließ sie nicht ausreden; ihr Gesicht wirkte nun lebhaft und ihre Augen funkelten.
»Das ist gar nicht Ihre natürliche Haarfarbe; da sind ja schon die Ansätze zu sehen«, bemerkte sie. »Und die sind weiß. Sie färben Ihre Haare, hab ich recht?«
»Äh … ja. Wieso?«
»Und irgendetwas stimmt mit Ihrem Auge nicht. Ist das ein Veilchen? Und auch Ihre Lippe wirkt total geschwollen. Hat Sie vielleicht jemand vermöbelt?«
»Nein, ich bin nur gestürzt«, erwiderte Sarah kurz angebunden und legte dabei eine Mischung aus Entrüstung und Verärgerung in ihre Stimme, um ihre Antwort glaubwürdig klingen zu lassen.
»Dieses Märchen können Sie Ihrem Friseur erzählen! Wenn ich mich nicht irre, tragen Sie eine dicke Schicht Make-up auf Ihrer verdammt hellen Haut, stimmt’s?«
»Äh … schon möglich«, murmelte Sarah. Mrs Burrows’ scharfe Beobachtungsgabe brachte sie ziemlich aus der Fassung. Ihre Tarnung wurde
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