Tunnel - 02 - Abgrund
in die Grube hinab, die sie mit dem üblichen beruhigenden Knacken kleiner Knochen begrüßte.
Sarah suchte in ihrer Manteltasche nach ihrer Taschenlampe, entschloss sich aber, sie nicht einzuschalten und sich stattdessen durch den stockdunklen Tunnel bis zur Hauptkammer vorzutasten.
»Mieze, bist du da?«, rief sie und schaltete die Lampe ein.
»Sarah Jerome, nehme ich mal an«, ertönte eine Stimme, während der Raum in grelles Licht getaucht wurde, das den Schein von Sarahs Taschenlampe bei Weitem überstrahlte. Geblendet schirmte sie sich die Augen ab und wirbelte herum, da sie glaubte, eine Bewegung wahrgenommen zu haben.
Verzweifelt versuchte sie, sich auf die Richtung zu konzentrieren, aus der die Stimme gekommen war.
»Wer …?«, setzte sie an und wich zurück.
Was zum Teufel passierte hier?
Dann entdeckte sie in einem der Sessel ein etwa zwölf oder dreizehn Jahre altes Mädchen, das mit züchtig verschränkten Beinen dasaß und ein kokettes Lächeln auf dem hübschen Gesicht trug. Doch das Mädchen hatte etwas an sich, das dafür sorgte, dass sich Sarahs Magen zusammenballte und sie eine namenlose Furcht überkam – das Mädchen war wie eine Styx gekleidet.
Ein großer weißer Kragen über einem schwarzen Kleid.
Ein Styx-Kind?
Und neben dem Mädchen stand ein Kolonist, ein riesiger, mürrisch dreinblickender Schlägertyp. Er hatte dem Kater ein Halsband umgelegt und hielt das sich windende Tier eisern fest.
Sarahs Instinkt schaltete jeden Gedanken aus – innerhalb eines Sekundenbruchteils hatte sie ihre Tasche aufgerissen und das Messer gezückt, das im hellen Lichtschein aufblitzte. Sie ließ die Tasche fallen, fuchtelte mit der Waffe und wich in geduckter Haltung noch weiter zurück. Fieberhaft sah sie sich um, auf der Suche nach der grellen Lichtquelle: Etliche Leuchtkugeln erhellten die Dunkelheit, gehalten von ebenso vielen gedrungenen, muskulösen Kolonisten, die die Höhlenwände wie reglose Statuen oder Wächter säumten.
Als Sarah die krächzende, unverständliche Sprache der Styx hörte, warf sie einen raschen Blick in den Tunnel, woher sie gekommen war. Eine Truppe uniformierter Styx, mit schwarzen Mänteln und weißen Hemdkragen, hatte sich hinter ihr postiert und ihr damit den einzigen Fluchtweg abgeschnitten.
Sarah war umzingelt. Sie wusste, dass es ihr nicht gelingen würde, sich bei solch einer Übermacht einen Weg frei zu kämpfen. Diese hoffnungslose Situation hatte sie sich selbst zuzuschreiben: Auf ihrem Marsch zur Höhle hatte sie es viel zu eilig gehabt und war mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen, sodass sie ihre üblichen Vorsichtsmaßnahmen vollkommen außer Acht gelassen hatte.
Du dämliche Kuh!
Und nun würde sie für ihren Fehler bezahlen, und zwar teuer.
Sie ließ ihre Taschenlampe fallen, hob das Messer und drückte sich die scharfe Klinge an die eigene Kehle. Sie hatte genügend Zeit. Die Styx würden sie nicht aufhalten können.
Doch dann meldete sich das Mädchen mit der sanften Stimme erneut zu Wort:
»Das willst du doch nicht wirklich.«
Sarah krächzte irgendetwas Unverständliches; ihre Kehle war von der Furcht wie zugeschnürt.
»Du weißt, wer ich bin. Ich bin Rebecca.«
Sarah schüttelte mit angsterfüllten Augen den Kopf. Ein winziger Teil ihres Verstandes fragte sich, warum das Styx-Mädchen einen Übergrundler-Namen verwendete. Die wahren Namen der Weißkragen kannte niemand.
»Du hast mich schon etliche Male in Wills Haus gesehen.«
Erneut schüttelte Sarah den Kopf und erstarrte dann. Irgendetwas an dem Mädchen kam ihr bekannt vor. Im nächsten Moment erkannte Sarah, dass sie sich als Wills Schwester ausgegeben haben musste. Aber wie?
»Das Messer«, drängte Rebecca, »leg es weg.«
»Nein«, versuchte Sarah zu erwidern, aber sie brachte nur ein Krächzen zustande.
»Uns verbinden so viele Gemeinsamkeiten. Wir haben beispielsweise ein gemeinsames Interesse. Du solltest dir wirklich anhören, was ich zu sagen habe.«
»Da gibt es nichts zu sagen«, schluchzte Sarah, die ihre Stimme wiedergefunden hatte.
»Erzähl du es ihr, Joe«, sagte das Styx-Mädchen und drehte sich halb um.
Eine Gestalt löste sich von einer der Höhlenwände und trat vor – es war der Verfasser der Nachricht, Joe Waites, einer der Männer ihres Bruders. Joe war für Sarah und Tarn immer wie ein Familienmitglied gewesen, ein treuer Freund, der Tarn bis ans Ende der Welt gefolgt wäre.
»Nun mach schon«, kommandierte Rebecca. »Erzähl es
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