Tunnel - 02 - Abgrund
hatten.
Sein Verdacht bestätigte sich: Die Siedlung war evakuiert worden, während er schlief.
Er marschierte auf das Licht in der Mitte des Geländes zu. Eine Petroleumlampe hing über einer spiegelnden Tischplatte aus poliertem Schneeflockenobsidian in einem rostigen Eisengestell. Als er näher kam, sah er, dass auf der schwarzen Tischoberfläche mit den diffusen weißen Einschlüssen irgendetwas lag, das von dem flackernden Lichtschein gespenstisch beleuchtet wurde: mehrere rechteckige Päckchen, die ordentlich in Reispapier eingewickelt waren. Er nahm eines der Päckchen und wog es in der Hand.
»Sie haben mir etwas Proviant hinterlassen«, murmelte er. Plötzlich verspürte er eine unerwartete Gefühlsregung für diese sanften Wesen, bei denen er so viel Zeit verbracht hatte, und versuchte, die Tränen wegzuwischen, die ihm in die Augen stiegen. Aber seine behandschuhte Hand traf nur auf die Sichtfenster in seinem kugelförmigen Staubanzughelm.
»Ihr werdet mir fehlen«, sagte er mit zittriger, gedämpfter Stimme. Dann schüttelte er rasch den Kopf, um diesen Gefühlsausbruch zu beenden. Er misstraute solchen sentimentalen Anwandlungen. Denn er wusste: Sobald er sich darauf einließ, würde er schreckliche Gewissensbisse gegenüber seiner Familie empfinden, die er im Stich gelassen hatte – gegenüber seiner Frau Celia und seinen Kindern Will und Rebecca.
Nein. Gefühle waren ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte, jedenfalls nicht jetzt. Er hatte ein Ziel und nichts würde ihn davon abhalten.
Langsam sammelte er die Päckchen ein. Als er das letzte hochnahm und zu den anderen legen wollte, die er bereits auf dem Arm trug, sah er, dass jemand eine Pergamentschriftrolle zwischen die Päckchen gesteckt hatte. Sofort legte er die Päckchen wieder auf den Tisch und rollte das Pergament auseinander.
Es handelte sich eindeutig um eine Karte, mit kühnen Strichen gezeichnet und mit stilisierten Symbolen versehen. Er drehte das Pergament erst in die eine und dann in die andere Richtung, um herauszufinden, an welcher Stelle er sich befand. Mit einem triumphierenden »Genau!« erkannte er die Siedlung und fuhr dann mit der Fingerspitze über die dicksten Konturen auf der Karte – die Umrisse der Großen Prärie. Von deren Rändern führten winzige, parallel verlaufende Striche fort, offensichtlich Tunnel. Daneben standen weitere Symbole, deren Bedeutung er aber nicht sofort entschlüsseln konnte. Er runzelte die Stirn, vollkommen vertieft in die Karte.
Diese tollpatschigen, zurückhaltenden Wesen hatten ihm genau das gegeben, was er brauchte: Sie hatten ihm den Weg gezeigt.
Er schlug die Hände zusammen, hielt sie sich vors Gesicht und sprach ein Dankesgebet.
»Danke, vielen, vielen Dank«, murmelte er, während sich seine Gedanken bereits mit seiner Weiterreise beschäftigten.
TEIL ZWEI
D IE H EIMKEHR
16
Sarah hob den lederartigen Vorhang zur Seite, um einen Blick durch das kleine Fenster in der Kutschentür zu werfen. Die Reise führte durch eine lange Reihe dunkler Tunnel, bis die Droschke schließlich um eine Ecke bog und Sarah eine beleuchtete Fläche sah, die sich vor ihnen erstreckte.
Im Schein der Straßenlaternen erkannte sie die ersten von zahlreichen Reihenhäusern. Als die Kutsche daran vorbeirumpelte, stellte Sarah fest, dass manche Haustüren offen standen, aber sie konnte nirgends auch nur einen Bewohner entdecken. Dafür waren sämtliche Vorgärten von dicken schwarzen Flechten und selbstaussäenden Pilzen überwuchert, und auf den Gehwegen lagen Haushaltsutensilien und Einrichtungsgegenstände herum, von Töpfen und Pfannen bis hin zu zerbrochenen Möbelstücken.
Die Kutsche verringerte ihre Geschwindigkeit und manövrierte sich vorsichtig um eine Einsturzstelle herum: Ein Teil des Tunnels war zusammengebrochen, und die herabstürzenden, massiven Kalksteinblöcke hatten erst das Dach eines Hauses zertrümmert und danach dessen Mauerwerk fast vollständig zerstört.
Sarah warf Rebecca, die ihr gegenübersaß, einen überraschten Blick zu.
»Dieser Abschnitt wird demnächst zugeschüttet, damit wir die Anzahl der Übergrund-Portale reduzieren können. Das hier ist nur einer der Deckeneinstürze, die dein Sohn bei seinem Eindringen in die Kolonie verursacht hat«, erklärte Rebecca nüchtern, während die Kutsche wieder Tempo aufnahm und dabei von Seite zu Seite schlingerte.
»Für das alles hier ist Will verantwortlich?«, fragte Sarah und malte sich aus, unter welch grausamen
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