Tunnel - 02 - Abgrund
glauben kannst, aber wir hören dir erst gar nicht zu.« Er schwieg einen Moment und holte langsam und bedächtig Luft.
»Und warum? Weil wir die Menschen der Kolonie so viele Jahre lang beherrschen und kontrollieren mussten – zum Wohle der Gemeinschaft. Und wir neigen dazu, alle auf die gleiche Weise zu behandeln. Aber ihr seid nicht alle aus ein und demselben Holz geschnitzt. Obwohl du eine Kolonistin bist, Sarah, zeigst du Leidenschaft und Engagement und bist nicht wie die anderen … kein bisschen wie die anderen. Vielleicht sollten wir dich tolerieren, schon allein wegen deines wachen Geistes.«
Sarah starrte ihn noch eine Weile an – auch nachdem er offenbar alles gesagt hatte, was er sagen wollte – und fragte sich, ob er vielleicht eine Antwort von ihr erwartete. Sie hatte keine Ahnung, welche Botschaft seine Worte vermitteln sollten. Versuchte er, ihr sein Mitgefühl zu zeigen? War dies vielleicht irgendeine Art Charme-Offensive der Styx?
Oder hatte er ihr ein bizarres, beispielloses Angebot gemacht, sich den Styx anzuschließen? Das konnte einfach nicht sein! So etwas war undenkbar. So etwas würde nie geschehen: Die Styx und die Kolonisten waren zwei verschiedene Menschenschläge, die Unterdrücker und die Unterdrückten, wie der alte Styx schon angedeutet hatte. Und sie würden nie zueinanderfinden … so war es schon immer gewesen und so würde es auch immer sein … bis in alle Ewigkeit.
Sarahs Gedanken überschlugen sich förmlich, während sie zu verstehen versuchte, was er gemeint hatte, und allmählich bildete sich eine weitere Möglichkeit heraus: Handelte es sich bei seinen Worten vielleicht einfach nur um ein Schuldeingeständnis der Styx, eine verspätete Entschuldigung dafür, wie man sie in ihrer Not um ihr sterbendes Neugeborenes behandelt hatte? Diese Frage beschäftigte sie noch immer, als die Kutsche vor dem Schädeltor anhielt.
Sie kannte das Tor, da sie es etwa ein Dutzend Mal passiert hatte, wenn sie ihren Mann in irgendeiner dienstlichen Angelegenheit zum Bezirk begleitet hatte. Meistens hatte sie dann vor dem jeweiligen Verwaltungsgebäude warten müssen – und falls man sie tatsächlich einmal zu einem der Treffen zugelassen hatte, war von ihr erwartet worden, dass sie den Mund hielt. So lief das nun mal in der Kolonie: Frauen galten als den Männern nicht ebenbürtig und konnten unter keinen Umständen eine verantwortungsvolle Aufgabe oder Position einnehmen.
Sarah hatte gerüchteweise gehört, dass dies bei den Styx anders gehandhabt wurde. Und der lebende Beweis dafür saß ihr nun direkt gegenüber, in Gestalt von Rebecca. Allerdings fiel es ihr schwer zu glauben, dass dieses Kind tatsächlich solch einen großen Einfluss ausübte. Außerdem hatte sie von Tarn erfahren, dass es bei den Styx eine Elitegruppe geben sollte, eine Art Adelsgeschlecht an der Spitze der Styx-Hierarchie – aber das war reine Spekulation. Die Styx lebten getrennt von den Bewohnern der Kolonie und niemand wusste genau, was hinter ihren Mauern vorging. Doch in den Tavernen berichtete man sich hinter vorgehaltener Hand von bizarren religiösen Ritualen – Gerüchte, die von Mann zu Mann weitergetragen und mit jedem Mal wilder wurden.
Als Sarah von Rebecca zu dem alten Styx schaute und wieder zurück, kam ihr plötzlich der Gedanke, dass die beiden tatsächlich auf die eine oder andere Weise miteinander verwandt sein konnten. Wenn man den Gerüchten Glauben schenkte, dann besaßen die Styx allerdings keine traditionellen Familienbande: Die Kinder wurden schon in jungen Jahren aus der Familie genommen und von speziellen Aufpassern oder Lehrmeistern an den Privatschulen erzogen.
Doch Sarah spürte deutlich, dass zwischen den beiden irgendetwas vorging, während sie dort in der Dunkelheit saßen … dass es zwischen ihnen irgendeine Verbindung gab, die über die übliche Loyalität der Styx untereinander hinausging. Trotz seines fortgeschrittenen Alters und der undurchdringlichen Miene erkannte Sarah im Verhalten des Alten gegenüber dem jungen Mädchen etwas Väterliches, Onkelhaftes – auch wenn dies kaum wahrzunehmen war.
Sarahs Gedanken wurden unterbrochen, als es einmal kurz an der Kutschentür klopfte und diese unmittelbar darauf aufgerissen wurde. Dann leuchtete jemand mit einer blendend hellen Messinglaterne ins Innere der Kutsche; der Lichtschein war so grell, dass Sarah sich die Augen abschirmen musste. Es folgte ein kurzer Wortwechsel in durchdringenden Klicklauten zwischen dem jungen
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