Tunnel - 02 - Abgrund
Styx neben ihr und dem Laternenschwenker, woraufhin die Lampe sofort verschwand. Dann hörte Sarah das Rasseln des Fallgitters, als das Schädeltor geöffnet wurde. Statt das Schauspiel jedoch vom Fenster aus zu beobachten, malte sie sich in Gedanken aus, wie das grobe Eisentor in dem Gemäuer verschwand, das an einen riesigen, zahnlosen Totenkopf erinnerte.
Das Schädeltor diente dazu, die Bewohner der Kolonie am Verlassen der gewaltigen Kavernen zu hindern. Aber natürlich hatte Tarn Hunderte von Wegen um dieses Haupttor herum gekannt. Für ihn war das Ganze eine Art Spiel gewesen – jedes Mal, wenn die Styx einen seiner Schmugglerpfade entdeckt hatten, war es ihm immer wieder gelungen, eine andere Route nach Übergrund zu finden.
Auch sie selbst hatte bei ihrer Flucht einen von Tarn ausspionierten Weg durch einen Lüftungsschacht benutzt. Es versetzte ihr einen Stich ins Herz, als sie sich wehmütig daran erinnerte, wie ihr großer Bruder mit seinen Bärentatzen von Händen sorgfältig eine detaillierte Karte für sie gezeichnet hatte – mit brauner Tinte auf einem Stofflappen von der Größe eines kleinen Taschentuchs. Doch sie wusste, dass diese Route nun nutzlos war. Mit der für sie typischen Effizienz hatten die Styx den Fluchtweg mit Sicherheit bereits wenige Stunden nach ihrem Verschwinden zuschütten lassen.
Die Kutsche setzte sich ruckartig wieder in Bewegung und raste dann los, immer tiefer in die Erde. Nach einer Weile veränderte sich die Luft: Ein starker Rauchgeruch stieg Sarah in die Nase, und das allgegenwärtige Hintergrundbrummen nahm so gewaltig zu, dass alles um sie herum zu vibrieren schien. Die Kutsche passierte die Haupt-Grubenlüfter: In einer riesigen Aussparung hoch über der Kolonie arbeiteten gewaltige Ventilatoren Tag und Nacht, um den Rauch und die verbrauchte Luft abzusaugen.
Sarah schnupperte und atmete tief ein. Hier oben war der Geruch wesentlich konzentrierter als sonst: der Rauch der Kamine, die Kochdünste, der Gestank von Schimmel, Fäulnis und Verfall und der kollektive Geruch einer riesigen Menschenmenge, die über mehrere, untereinander verbundene Höhlen verteilt lebte – ein Destillat sämtlicher Lebensformen in der Kolonie.
Im nächsten Moment bog die Kutsche um eine scharfe Kurve. Sarah klammerte sich an ihren Sitz, damit sie nicht über die abgenutzte Holzfläche in den jungen Styx neben ihr rutschte.
Näher.
Sie näherte sich jetzt immer schneller.
Während die Kutsche einen steilen Abhang hinunterschoss, lehnte Sarah sich erwartungsvoll gegen das Fenster.
Sie schaute hinaus, unfähig, sich vom Anblick der Dämmerwelt loszureißen, die einst alles gewesen war, was sie von der Erde kannte.
Aus der Ferne sahen die Steinhäuser, Werkstätten, Geschäfte, Andachtsstätten und massiven Verwaltungsgebäude, aus denen die Südkaverne bestand, noch genauso aus wie am Tag ihrer Flucht. Doch das überraschte sie nicht. Das Leben hier unten in der Kolonie war so unveränderlich und beständig wie das blasse Licht der Leuchtkugeln, die rund um die Uhr, tagein, tagaus während der letzten drei Jahrhunderte gebrannt hatten.
Schließlich erreichte die Kutsche den Fuß des Abhangs und raste in solch halsbrecherischem Tempo durch die Straßen, dass die Leute eilig aus dem Weg sprangen oder ihre Handkarren hastig an den Rand schoben, um nicht überfahren zu werden.
Sarah bemerkte, wie die Kolonisten der rasenden Kutsche verwirrt nachsahen. Mehrere Kinder zeigten auf das Gefährt, wurden von ihren Eltern aber fortgezogen, als diese erkannten, dass Styx in der Kutsche saßen. Es gehörte sich nicht, die Mitglieder der herrschenden Klasse anzustarren.
»Wir sind da«, verkündete Rebecca und schwang die Tür auf, noch bevor die Kutsche zum Stehen gekommen war.
Mit einem Schock erkannte Sarah die vertraute Straße. Sie war zu Hause. Dabei hatte sie ihre Gedanken doch noch gar nicht geordnet … Sie war noch nicht bereit! Zitternd erhob sie sich, um Rebecca zu folgen, die vom Tritt der Kutsche leichtfüßig auf den Gehweg sprang.
Sarah schwankte, ob sie die Kutsche wirklich verlassen sollte, und verharrte zögernd in der Tür.
»Komm«, sagte Rebecca sanft. »Komm mit mir.«
Sie nahm Sarahs Hand und geleitete die zitternde Frau in das Zwielicht der Kaverne. Während Sarah sich von dem Mädchen führen ließ, hob sie den Kopf und schaute hinauf zur gewaltigen Höhlendecke, die sich über die unterirdische Stadt wölbte. Senkrechte Rauchwolken stiegen träge aus den
Weitere Kostenlose Bücher