Turils Reise
unerschöpflichen Reservoir zehrte er, während die GELFAR seinen Körper längst erobert hatte. Im grellen Lichtschein der Flamme war er unangreifbar. Sollte die GELFAR doch machen, was sie wollte - sein Ich würde weiterleben. Denn er war … er war …
Neuerlich überkam ihn Schwärze.
Als Turil das nächste Mal zu Bewusstsein kam, lag er in einem mit grüner Flüssigkeit gefüllten Nährtank. Plankton- ähnliche Schwebstoffe umgaben ihn in großen Mengen, und robotische Fischwesen jagten dem Zeug hinterher, um es zu verschlucken.
Vermutlich fressen sie die Ausscheidungen meines Körpers, dachte der Thanatologe müde, die mit GELFAR-Spionen durchsetzt sind.
Er versuchte zu sehen. Zu begreifen, was rings um ihn geschah. Doch es fiel ihm schwer, so schwer … Ursache und Wirkung. Wirkung und Ursache. Die beiden Begriffe vermengten sich, wurden eins. Sinn. Sinnlos. Hoffnungslos.
Ein Auge trieb an ihm vorbei, bloß von einem blutroten und dünnen Gummibändchen gehalten. Im nächsten Moment sah sich Turil durch dieses Auge. Er erblickte einen wie mit dem Skalpell in seine Einzelteile zerlegten Körper. Dazwischen befanden sich Knochen-und Knorpelreste, an deren Enden Maschinchen emsig arbeiteten und eine Restrukturierung einleiteten. Gedärme und Organe steckten in metallenen Zangenhalterungen, jeweils sorgfältig bewacht und von winzigen Roboteinheiten betreut. Nervenfasern waren fein säuberlich ausgebreitet, einem Korallengeflecht nicht unähnlich, allerdings von einem seltsamen Goldschimmer umgeben. Er war nicht mehr Turil; er war nun Herz-Turil,
Haut-Turil, Augen-Turil, Finger-Turil, Nerven-Turil. Er bestand aus mindestens dreihundert Komponenten.
»Du musst schlafen«, sagte jemand, und es wunderte Turil, dass er die Stimme in seinem Nährtankbad hören konnte. »Gute Nacht«, fügte sie hinzu. Der Totengräber hörte das Klicken eines Schalters - und wiederum fiel er in eine Bewusstlosigkeit.
Kurze Episoden des Wachseins und wahnsinniger Schmerzen wechselten mit zeitlosen Schlafperioden ab. Jedes Mal, wenn sich Turil seiner selbst bewusst wurde, sah er sich anders. Verändert. Restrukturiert. Wie bei einem Fahrzeug, das einem grundlegenden Service unterzogen wurde, wechselte man fehlerhafte Ersatzteile aus und fuhr mit dem Zusammenbau seines Körpers fort.
Warum tat man ihm das an? Warum ließ man ihn nicht sterben? Und vor allem: Wer steckte hinter der Restrukturierung? Die GELFAR oder sein Vater? Wer hatte die Auseinandersetzung gewonnen?
Innereien wuchsen heran oder starben ab, trieben neben ihm - ihm? - dahin. Das Knochengerüst entstand, wurde wie ein Modell geformt. Fleisch, anfänglich grünlich gefärbt und narbig, wurde rosarot. Sehnen, Muskeln, Kapillarsysteme, Organe, Haut - dies war er, auf seine biologischen Bestandteile reduziert.
»Hör mir gut zu, Sohn«, sagte irgendjemand, dessen Identität er nicht kannte; sein Kopf war absolut leer, so leer, als hätte er sein ganzes Leben lang keinen einzigen bewussten Gedanken gefasst. »Die GELFAR hat dich so vollständig okkupiert, dass wir dich neu erschaffen mussten. Man gab dir eine zweiprozentige Überlebenschance vor dem Beginn der Restrukturierung. Mittlerweile geht man von einer
fünfzehnprozentigen Erfolgsaussicht aus. Halte durch. Du kannst es schaffen!«
Pschoim. Turil erinnerte sich an seinen genetischen Erzeuger. Also wollte man ihn retten. Aber warum? Um im Kampf gegen die Schiffssphären eine Rolle zu spielen? Nichts ergab einen Sinn.
Besorgnis schwang in der Stimme seines Vaters mit. Echtes Mitgefühl, das Turil niemals zuvor gespürt oder gehört hatte. Ausgerechnet jetzt, da er nur noch ein in die Einzelteile zerlegtes Etwas war, wurde ihm ein Hauch jener emotionellen Nähe zuteil, auf die er sein ganzes Leben lang gehofft hatte. »Zu spät«, hörte er sich - mit seinem Mund? - sagen, »viel zu spät.« Turil vermochte nicht damit umzugehen, er hatte es verlernt. Sein ganzes Interesse galt der Frage, ob man ihn auch wieder zu jenem Wesen zusammenfügen konnte, das er einmal gewesen war. Ob man nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Identität wiederherstellen konnte.
Irgendwann wurden die Schmerzmittel abgesetzt, und Turil trieb durch einen endlos langen Korridor, der aus einem einzigen, langgezogenen Schrei bestand. Er selbst war es, der schrie, doch er besaß keine Stimme, da die Stimmbänder noch nicht wieder einsatzbereit waren. Ärzte, die ihn nun von Zeit zu Zeit über die Heilungsfortschritte
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