Turils Reise
Schmerz abgeklungen war. Er nahm die Drohgebärde ernst, sehr ernst. Doch er
war bei weitem nicht mehr so mutlos wie noch vor der Ankunft im Friedenshof Grau. Diese Wut, die in ihm ruhte, musste sich auch ein weiteres Mal abrufen lassen.
Zum ersten Mal seit seinem Zusammentreffen mit Armain begegnete er einem anderen Totengräber. Er trug die karmesinrote Kleidung eines Archivars, und er blickte ebenso starr an ihm vorbei wie gerade erst der Kreavatar. Unnützes Reden bedeutete Energieverschwendung. Und es verführte dazu, sich Gedanken über Dinge zu machen, die nichts mit der Arbeit zu tun hatten. So lauteten die Regeln, so lebten und wirkten die Thanatologen.
Turil drehte sich um und blickte dem anderen hinterher. Der Zeremonienmantel, kürzer geschnitten und mit einer staubabweisenden Spezialimprägnierung versehen, umgab ihn wie eine Feuerlohe. Turil fragte sich, wie viele Totengräber denn tatsächlich noch Herr über ihr eigenes Schicksal waren, und wie viele wie Puppen gelenkt wurden. Waren sie etwa alle Gefangene der Schiffssphären?
»Komm herein, Turil«, erklang die helle Stimme Nochois.
Er betätigte den Öffnungsschalter und betrat das einfach gehaltene Quartier seines älteren Kollegen. Nochoi wartete am Empfangspult des Wohnzimmers. Weiter hinten im sparsam eingerichteten Raum saß eine Frau, den Kopf von Turil abgewandt, und starrte die nackte Wand an.
»Ich grüße dich, verehrter Meister«, sagte Turil und deutete eine Verbeugung an.
»Du bist soeben erst angekommen?«, fragte der andere, ohne seine Höflichkeit zu erwidern.
»Ja. Ich hatte noch einen Auftrag zu erfüllen.«
»Auf Faurum. In Kiriasts Bereich. Man redet darüber.«
Man. Die informellen Gespräche der Dienstälteren waren
also längst im Gange, das Urteil über ihn bereits gefällt … »Kommen wir zur Sache«, sagte Nochois. »Pschoim und ich vereinbarten vor langer Zeit, dass meine Tochter Zarata und du eine Verbindung eingehen sollen. Das diesjährige Große Thang wäre die passende Gelegenheit für das Vereinigungszeremoniell gewesen. Angesichts der Umstände muss ich die Feier allerdings absagen. Ich kann Zarata unmöglich jemandem überantworten, dessen Zukunft nach dem Staub der Archive riecht.«
»Ich verstehe.« Turil wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Die Drohung, dieses ausgetrocknete Geschöpf mit dem Charme eines arbeitslosen Ramaischen Treibers zur Frau nehmen zu müssen und mit ihr Kinder zu zeugen, stand seit geraumer Zeit im Raum. Widersinnigerweise bot ihm ausgerechnet die Zwangslage, in die ihn die GELFAR gebracht hatte, einen Ausweg aus dieser unangenehmen Situation. »Schulde ich dir etwas, Nochoi?«
»Nein. Pschoim war sehr überzeugend, als er dich mir als Schwiegersohn anpries, doch ich war stets der Meinung, dass diese Verbindung nicht zufriedenstellend funktionieren würde. Nachkommen, die deine Gene in sich tragen, ist keine große Zukunft beschieden.«
Wie oft hatte er schon zu hören bekommen, dass er ein Versager, dass er aus der Art geschlagen war! Wie oft hatte er Klagen gehört, bösartige Verleumdungen und Beleidigungen. Nochoi hatte ihn stets nur als Zuchtbullen gesehen, und sicherlich hatte Pschoim einen schönen Batzen Geld an diesen alten Griesgram transferieren müssen, um das Eheversprechen zu erhalten.
»Richte deiner bezaubernden Tochter bitte schön meine Grüße und mein aufrichtiges Bedauern aus. Sie wird bald einen anderen finden, dessen bin ich mir sicher. Dank ihres
gewinnenden Auftretens und ihres Liebreizes wird sie sich der Verehrer kaum erwehren können.«
Nochoi blinzelte nervös, sein Körper signalisierte mühsam unterdrückten Zorn. Er erkannte den Sarkasmus, und nur zu gerne hätte sich der Ältere auf ihn gestürzt. Doch er wahrte die Contenance; schließlich war er ein angesehener Totengräber, dessen Familie seit zig Generationen über zwei Schiffssphären verfügte.
Turil verließ den Raum mit einer angedeuteten Verbeugung und trat wieder auf einen dieser endlosen Gänge hinaus.
Seltsam. Diese Vorgeplänkel des Großen Thang veränderten alles. Er verlor Frau, Rang und Namen - und es scherte ihn nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil: Die Annulierung der Eheverpflichtung brachte ihm ein weiteres Stück Freiheit. Turil legte seine Ängste und Sorgen wie Gewänder ab. Selbst der Zeremonienmantel und seine Möglichkeiten schreckten ihn nicht mehr. Die Drohungen der GELFAR verloren allmählich an Bedeutung. Freiheit und Tod - oder beides - wurden
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