Turils Reise
müsse.
Zarata trat zu ihrem Vater, lüftete mit zittrigen Fingern ihren Grauschleier und offenbarte Turil ihr Gesicht, das niemals zuvor ein Mann gesehen hatte. Es wirkte ausgezehrt und müde, doch in den Augen glomm ein unheimliches Verlangen, als wollte sie Turil auffressen …
»Hier hinein!«, sagte Pschoim unwirsch und deutete auf ein schwarzes Loch, das von kniehoch aufgetürmten Knochen umgeben war.
»Bitte nicht!«, hörte sich Turil betteln, »ich will auch ganz brav sein …«
Vater lachte sein humorloses Lachen, riss sich von ihm los und stieß ihn mit brutaler Gewalt in das Loch. Turil stürzte. Er tastete verzweifelt um sich, wollte sich irgendwo festhalten, bekam irgendetwas zu fassen. Einen Knochen. Sehniges Fleisch hing daran, das nach Wundbrand stank. Turil fiel und fiel, er schrie und schrie, und die Erinnerungen kehrten zurück. Die Erinnerung an jenen Tag, da seine Hoffnungen gestorben waren …
Turil wanderte durch die Gassen des bankinidischen Zankgehöfts. Mit jugendlicher Neugierde musterte er die armselig wirkenden Ureinwohner. Sie wirkten müde; als wüssten sie, dass sich die Tage auf ihrer Welt einem Ende näherten. Apathisch hockten sie in den Schatten der Spindeltürme. Sie kauten Kornkraut oder schnüffelten an Geno-Clips, die ihnen Bilder einer ruhmreichen Vergangenheit vorgaukelten. Unzählige Kriege und Auseinandersetzungen hatten die einstmals ruhmreichen Geschlechter dieses Gehöfts ausbluten lassen.
Sie wichen zurück, denn sie fürchteten ihn, den mehr als doppelt so großen Sohn eines Totengräbers. Weil er anders war, weil er so lebendig wirkte in dieser toten Umgebung.
Turils Zeremonienmantel tat sein Werk. Er beobachtete , er sammelte Daten. Chemische und biogenetische Untersuchungen gehörten ebenso zum Standard seiner Programmierung wie das Erstellen eines psychosozialen Stimmungsprofils der Bankiniden oder einer dynamischen Profitanalyse.
Der Zeremonienmantel lieferte ihm, obwohl noch längst nicht zur vollen Leistungsstärke aufgerüstet, kleinste Wissensbausteine,
die Teile eines Puzzles. Er musste das Gesamtbild erfassen, interpretieren, verstehen. Nur dann konnte sein Vater und Meister das georderte Totenfeuer nach den Wünschen der herrschenden Schwarmkaste fertigstellen.
Ein Schatten huschte über die Straße. Der Bankinide bewegte sich so schnell, dass die Bewegungen kaum auszumachen waren. Ein leises Sirren ließ vermuten, dass er sein Warngefieder weit ausgefächert hatte.
Die Instinkte der Insektoiden schlugen stark und heftig durch. In demselben Maß, wie sie verarmten und ihren einstmals so bedeutenden Stockstolz vergaßen, sank auch ihr Selbstwertgefühl. Sie waren nur noch Schatten ihrer Selbst; Muster ohne Wert.
Turil achtete nicht weiter auf den Kleinwüchsigen, der die Straße glücklich überquert hatte und sich hinter einem Bretterverschlag verbarg. Stattdessen musterte er die eingetrockneten Schlammgruben links und rechts des Weges. Er musste sich vor den diebischen, heimtückischen Aggro-Banden in Acht nehmen, die die Zankgehöfte in diesen Tagen beherrschten. Sie fraßen, was ihnen in den Weg kam. Mitunter auch Artgenossen, und sicherlich den groß gewachsenen, proteinreichen Sohn eines Thanatologen.
Turil stieg bedachtsam über eine schmale Bodenspalte hinweg. Heißes, aufquellendes Dickwasser rann träge die Furche entlang. Das Netz der Bodenspalten hatte einstmals alle Zankgehöfte durchzogen. Heutzutage zeigte es immer mehr Ausfälle. Es fanden sich kaum noch Furchengänger, die sich darauf verstanden, die notwendigen Reparaturen durchzuführen. Turil wollte keinesfalls hier sein, wenn das Netz endgültig zusammenbrach. Dann würde Dunkelheit über die Bankiniden kommen, sie endgültig in jenen Urschleim
zurücktreiben, den sie vor mehreren tausend Jahren verlassen hatten.
Noch aber herrschten die blauen, grünen und rostfarbenen Schwärmer. Sie zementierten ihre Macht immer weiter auf Kosten der ärmeren Kasten. Eine zügellose Sucht nach Luxus und Dekadenz stand im Vordergrund allen Strebens der Einser, Zweier und Vierer. Sie pressten ihre Artgenossen aus und schröpften sie, trieben ihre eigenen Ansprüche in immer lichtere Höhen und gaben Unsummen für lästerliche Vergnügungen aus.
Nein - dies war keine schöne Welt. Sie stank nach Unrat und Tod, nach Unglück und Niedergang. Doch wer war er, dass er sich eine Wertung erlaubte? Er, Turil, Lehrling des ehrenwerten Totengräbers Pschoim, machte Beobachtungen, die für die
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