Turils Reise
unbenutztes Warenlager. Ein Zimmer mit diversen Spielekonsolen und einer Vielzahl von multifunktionellen Körpersteckern, die vor Jahrzehnten beliebt gewesen waren. Von Kunstlampen ausgeleuchtete Biotop-Anlagen, in
denen einstmals Gemüse angebaut worden war. Der von grünem Schlick überwachsene Swimmingpool, Hitze-und Kälteräume, ein Schlafzimmer mit einer unberührten Liegestatt. Der Blick vom Bett aus war durch eine transparente Wand in weite Ferne gerichtet, auf eine virtuell erzeugte Landschaft, die das Gefühl von Distanz vermittelte. Die Fensterfront war beschlagen. Schneckenwesen mit gefährlich glänzenden Dornen auf ihren Häuschen krochen ziellos auf dem Plastglas umher. Auf der »Veranda« dahinter waren zwei metallene Liegestühle zu erkennen, beide halb versunken im Morast.
Und dann der Wandschrank rechts vom Schlafzimmer, schmal und schlecht ausgeleuchtet. Eine unsichtbare Lichtquelle flackerte kurz auf, als Turil den Infrarotschalter betätigte, und fiel schließlich ganz aus. Atemlos zog sich Turil einen Schritt zurück. Der Gestank, den er bereits beim Betreten des Kerkers registriert hatte, war nicht aufgrund verwesender Lebensmittel entstanden! Er hatte seine Quelle hier.
Denn neben der Eingangstüre zu dem kleinen Raum stand der Kitar gegen die Wand gelehnt. Er war von einer Schicht Insekten bedeckt, die an ihm knabberten.
Turil ließ den Schein seiner Taschenlampe über den Körper des mehr als zwei Meter großen Geschöpfs gleiten. Irgendetwas zischte und fauchte, bevor es aus dem breiten Brustkorb des Kitar hervorbrach, zu Boden fiel und irgendwo in der Dunkelheit verschwand.
Die Hände des Totengräbers begannen zu zittern, und ihm wurde schwindelig. Es war nicht das Aussehen des halb zerfressenen Wesens, das ihn erschreckte, sondern die Art, wie sein Geist auf die Anwesenheit des Kitar reagierte. Psychedelisch anmutende Bilder entstanden vor seinen Augen.
Kreise, die sich ineinanderdrehten. Farben, die nach Gülle rochen. Glitzernde Sternchen, die auf ihn zuschossen und sich, noch während sie näher kamen, in Schriftzeichen verwandelten.
Ich wurde vergiftet! , dachte Turil voll Panik. All die Gärgase … Er wankte schrittweise zurück, würgte grünen Schleim hoch und spuckte aus. Der Atem kam stoßweise, er drohte zu hyperventilieren. Von einem Moment zum nächsten erblindete er, spürte nichts mehr, roch nichts mehr, war gänzlich von der Umwelt abgeschlossen. Turil wurde zu einem dahintreibenden Brocken inmitten eines dunkel gewordenen Universums. Die Panik, die er so lange zurückgehalten hatte, nahm endgültig überhand. Er tat etwas - Erbrach er sich? Schrie er? Bewegte er sich? - und fühlte sich eingeengt, gefangen, wie in einem gewaltig gro- ßen Spinnennetz, dessen Fäden sich immer enger zusammenzogen. Das Universum, das noch vor wenigen Momenten so groß und unergründlich erschienen war, wurde nun zum Gefängnis. Zum Korsett, das ihn zu ersticken drohte.
Der Totengräber hörte sich etwas sagen. Weinen. Schreien. Kreischen. Er wandte die letzten Kraftreserven auf, um sich aus diesem Amalgam falscher Sinneseindrücke zu befreien. - Vergebens. Die letzten Empfindungen endeten, wurden von dieser unheilvollen, einengenden Schwärze zerquetscht. Er brach zusammen. Versagte. Hörte auf zu funktionieren.
Er erwachte mit schrecklichen Kopfschmerzen. Irgendetwas bewegte sich über ihn hinweg. Ein weiterer, seltsam verzögerter und verzerrter Sinneseindruck vermittelte ihm, dass er in die rechte Hand gebissen wurde.
Mühsam orientierte er sich. Er lag auf dem Boden, halb
versunken im Biotop-Teppich. Der Mund war mit grässlich schmeckender Flüssigkeit gefüllt. Nun, da er sich seines Körpers bewusst wurde, fühlte er eine ganze Armada von Tierchen über sich kriechen. Er kam wackelig auf die Beine und schüttelte sich. Die Panik, die er vor seinem Zusammenbruch gespürt hatte, war verflogen. Er bewegte sich zielgerichtet und wusste ganz genau, was zu tun war. Die Kopfschmerzen irritierten ihn nicht mehr länger, und selbst der Anblick seiner Hand, an der zwei Finger bis auf die Knochen abgeknabbert worden waren, schreckte ihn nicht sonderlich. Solche Dinge ließen sich mit den Mitteln der GELFAR reparieren.
»Danke, Pschoim«, murmelte er, während er Spinnen, ameisenähnliche Insekten mit kräftigen Oberkiefer-Mandibeln und Würmer von seinem Körper fegte. So sehr er seinen Vater auch verachtete - Pschoim hatte ihn gelehrt, selbst in den unmöglichsten Situationen
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