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Turils Reise

Turils Reise

Titel: Turils Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marcus Thurner
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zusätzliche Hautschicht, die von verrosteten Metallhaken durchbohrt war. Sie war in weitaus besserem Zustand als die Oberhaut, doch auch hier hatten sich die Aasfresser bereits gütlich getan.
    Der Kitar reagierte in keiner Weise auf seine Berührungen und die Körperreinigung, die er ihm angedeihen ließ. Er zeigte weder Verwunderung noch Erleichterung oder Schmerz. Nur dieser durchdringende Blick aus kugelrunden Augen bewies, dass er noch lebte, noch funktionierte.
    Turil widmete sich dem Gesicht. Einstmals mussten dicke Hautfalten die Sinnesorgane geschützt haben. Sie fehlten nun, waren im Laufe der Zeit von den hiesigen Parasiten und Aasfressern weggebissen worden. Geringe Reste davon bedeckten die Lider der beiden kleinen, tiefliegenden Augen.
    »Rede mit mir!«, forderte er sein Gegenüber auf.
    Keine Antwort. Turil hatte den Eindruck, als bewegten sich die Lippen ein ganz klein wenig. Vielleicht waren es aber auch Aastierchen, die diesen Eindruck vermittelten. Rings um die runde Mundöffnung zischte und krachte und knackte es.
    »Wer bist du? Was bist du? Wo kommst du her? Warum machen deine Leute diese schrecklichen Dinge? Warum zerstört ihr ganze Welten?« Turil war nicht in der Lage, sich gegen einen weiteren Gefühlsausbruch zu wehren. Die Fragen sprudelten nur so aus ihm hervor. Ihm war, als hinge seine Existenz davon ab, das Rätsel der Kitar zu lösen. Jetzt! Sofort!

    Das Wesen antwortete nicht.
    Turil hieb ihm ins Gesicht. Mit aller Kraft, ohne darüber nachzudenken, was er da eigentlich tat. Der Kopf des Kitar flog zur Seite und verharrte in dieser neuen, unnatürlichen Position. Er bot keinen Widerstand, zeigte keinen Schmerz.
    Dieses Wesen schien aus einem völlig fremden Lebensraum zu stammen, in dem die herkömmlichen Naturgesetze keine Gültigkeit besaßen. Der Kitar scherte sich keinen Deut um seine Körperlichkeit. Er hatte sich über Jahre hinweg geweigert zu sterben. Möglicherweise hätte er ein weiteres Jahrzehnt gewartet, wenn Turil ihn nicht aus seiner Stasis gerissen hätte.
    Das war die schreckliche Erkenntnis, der sich Turil stellen musste: Er war es, der das Erwachen des Kitar bewirkt hatte.
    »Was willst du von mir?« Turil richtete den Kopf des Kitar sorgfältig gerade, so, dass er ihm wieder in die Augen blicken konnte.
    Auch jetzt erhielt er keine Antwort.
    »Hör mir gut zu«, sagte Turil eindringlich, »ich werde dich von hier wegschaffen und an Bord meines Schiffes bringen. Dort kümmere ich mich um dich. Ich werde dich pflegen, bis du wieder vollständig gesundet bist. Und wenn es Jahre in Anspruch nimmt …«
    Der Leib des Kitar zitterte. Er atmete röchelnd ein und aus, ein und aus, immer wieder. Das erste Mal seit wie vielen Jahren? Leben, richtiges Leben strömte in ihn zurück. Seine Erscheinung gewann an Bedrohlichkeit, er streckte den mächtigen Körper und wuchs zu einem Etwas heran, das man fürchten musste, weil es so schrecklich, so grausam, so unglaublich erbarmungslos war. Turil wollte zurückweichen,
so viel Distanz wie möglich zwischen sich und den Kitar bringen. Davonlaufen! Alles vergessen!
    Der Kitar fand nicht mehr die Kraft, sich zu erheben. Es schien, als hätte er so viel Energie wie möglich aufgespart, um sie nun in diese letzten Momente seines Lebens zu investieren. Der Mund öffnete sich, eine grünliche Masse quoll daraus hervor und ergoss sich über die weit vorstehende Brust. Ein Arm fiel haltlos nach unten. Die Muskelund Sehnensubstanz hatte soeben endgültig nachgegeben.
    Turil war gezwungen, den Tod des Kitar mit anzusehen. Nichts konnte seinen Exitus verhindern, jegliche medizinische Hilfsmaßnahme würde zu spät kommen. Er war oft genug dabei gewesen, wenn sich der Leib eines Sterbenden vom Geist trennte. Die metaphysischen Begleitumstände ähnelten einander. Dieses Wesen besaß Stärken, wie er sie niemals zuvor gesehen hatte; doch nun war seine Stunde gekommen.
    Zahnreihen zerbrachen, ein riesiger weißer Wurm glitt aus der Mundhöhle und rutschte auf der grünen, eben ausgespuckten Schleimschicht den Bauch des Kitar hinab. Ein Ton entstand. Tremolierend hoch drang er aus der Kehle des Todgeweihten. Er redete!
    Turil beugte sich vor und brachte sein Ohr so nahe wie möglich an den Mund seines Gegenübers. »Was willst du sagen?«
    Ein kräftiger Atemzug. Eine Wolke sinnesbetäubender Fäulnis. Das Knacken mehrerer Chitinkörper, die irgendwo im Leibesinneren ihrer verhängnisvollen Arbeit nachgingen. Und schließlich, kaum hörbar,

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