Turils Reise
Turil wusste um die Bösartigkeit, die die Fünkchen überfiel, sobald sie begriffen, dass ihre Lebenszeit so viel kürzer bemessen war als die ihrer Besitzer. Dann folgten sie Befehlen nur noch widerwillig. Sie verdrängten das Pflichtbewusstsein ihrem Zuchtlicht gegenüber und machten sich einen Spaß daraus, Leute in die Irre zu führen, ihnen Fallen zu stellen. Fünkchen waren auf vielen Welten verboten oder nur noch wenig geschätzt. Man griff vermehrt auf Kunstwesen neuerer Generationen zurück, die weniger Eigenbewusstsein entwickelten.
»Was ist mit dir?«, fragte das Fünkchen.
»Ich traue dir nicht.« Sorgfältig leuchtete Turil die Umgebung ab. Woher drohte ihm Gefahr? Von den Vögeln, diesen Karakähen?
Eine unterarmlange Schlange ringelte sich durchs kniehohe Gras und zischelte aggressiv, als das Licht der Fackel auf sie fiel. Das Getier interessierte Turil nicht. Die Design-Intelligenz seines Schuhwerks war ausreichend, um eine von der Schlange ausgehende Gefahr zu erkennen und zu
neutralisieren. Wo aber befand sich der Abgang zu den Katakomben, von dem das Fünkchen gesprochen hatte? War er durch einen versteckten Mechanismus zu öffnen? Das erschien Turil unwahrscheinlich. An einem Ort wie diesem hatte Technik, und wäre sie auch noch so einfach gestrickt, nichts verloren.
Links von ihm zeigte sich ein Fleck in annähernder Rechteckform, auf dem das Gras ein wenig kürzer wuchs. »Müssen wir hier hinab?«, fragte Turil. Er leuchtete sorgfältig den Boden aus und suchte nach Bearbeitungsspuren.
»Ja«, gab das Fünkchen widerwillig zur Antwort. Es blieb in der Luft stehen und machte keinerlei Anstalten, ihm zu erklären, wie das Tor zu öffnen war.
»Muss ich dich daran erinnern, dass du mir verpflichtet bist? Möchtest du, dass ich mich im Hofkastell über dich beschwere? Man wird dein Zuchtlicht entsorgen, deine unfertigen Nachfolger zurück in jene unbeseelte Ursuppe schütten, aus der ihr gehoben wurdet …«
»Nein! Nein!« Das Licht des Fünkchens zitterte, drohte fast zu erlöschen. »Das darfst du nicht tun, ehrwürdiger Totengräber! Verzeih uns, dass wir unaufmerksam waren, dass wir dir nicht alles, was wir wussten, auch sagten.«
»Das kommt niemals wieder vor! Hast du mich verstanden?«
»Selbstverständlich, Herr! Wir werden alles tun, was du verlangst.«
Das Fünkchen tauchte hinab ins Gras, zerrte an einem Büschel und zog es unter Aufbietung all seiner Kräfte beiseite. Ein Geflecht aus Moos, Efeu und ineinander verflochtenen Pflanzen klappte hoch. Turil blickte in ein schwarzes Loch, scheinbar ohne Boden. Eine metallene Leiter führte ins Unbekannte hinab. Ein Schritt weiter - und er wäre
abgestürzt. Der Arbeitsmantel hätte ihn geschützt, keine Frage; doch er hätte einen Teil seiner sorgfältig bewahrten Geheimnisse aufdecken müssen.
Turil trat vorsichtig auf die oberste Sprosse. Irgendwo knarrte und quietschte es, doch die metallene Verankerung hielt. »Du fliegst voraus«, befahl er dem Fünkchen.
»Gerne, Herr.«
Das Kunstwesen tauchte hinab in die Dunkelheit und leuchtete ihnen den Weg. Vorerst hatte er das Fünkchen in die Schranken gewiesen. Es würde Turils Anweisungen befolgen und seine Autorität nicht mehr anzweifeln. Doch irgendwann, wenn Kraft und Leuchtkraft nachließen und dem Fünkchen die Flatterbewegungen immer schwerer fielen, würde es erneut nachzudenken beginnen. Turil musste achtsam bleiben …
Ein Schwarm von Karakähen flatterte schrill kreischend an ihm vorbei, hinab in die Tiefen der Katakomben. Er zog den Kopf ein, lehnte sich so gut es ging gegen die kalten Eisensprossen der Leiter und machte sich klein. Eines der Flugtiere verfing sich dennoch in einem der weit geschnittenen Ärmel. Es krächzte panisch, kratzte und verbiss sich im metallgewirkten Unterhemd von Turils Zeremoniengewand. Turil unterdrückte einen Fluch - Totengräber fluchten nie! Niemals! -, schüttelte und beutelte die panisch reagierende Karakähe aus dem Gewand und packte sie mit einer blitzschnellen Handbewegung am gefiederten Schweif, ohne auch nur für einen Augenblick das Gleichgewicht zu verlieren. Seine Reflexe waren ausgezeichnet; weitaus besser als die seiner Landsleute. Die Karakähe reagierte auf den sanften Fingerdruck und machte sich klein, so klein, dass es Turil schien, als hätte sie sich irgendwie aus seiner hohlen Hand befreit.
Für lange Sekunden musste er sich gegen das Eisen pressen. Der Schwarm wollte und wollte kein Ende nehmen. Die Tiere
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