Turm der Lügen
suchte nach Worten.
»Nicht.« Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Ich bin sicher, wir sehen uns wieder – ich könnte es sonst nicht ertragen.«
Sie spürte seinen Kuss an ihren Fingerspitzen, dann war er fort. Fröstelnd ordnete sie ihr Gewand, flocht die Haare und griff nach ihrem Umhang. Gegen das Brennen in ihren Augen konnte sie nichts tun. Halb blind suchte sie ihren Weg.
Philippe kam ihr auf der Holzbrücke über dem Wassergraben, der den Wohnturm umgab, entgegen. Mit gesenktem Kopf entbot sie ihm Reverenz.
»Da seid Ihr ja«, sagte er, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, ihr kurz nach Sonnenaufgang hier zu begegnen. »Passt gut auf Jeanne auf. Adieu, kleine Schwester.«
Er hielt ihr die Hand hin und zog sie zu einer völlig unerwarteten Umarmung an seine Brust.
»Betet für die Genesung des Königs«, hörte sie ihn sagen, dann strebte er mit eiligen Schritten davon.
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Fünfzehntes Kapitel
D er heftige Tritt entlockte Jeanne einen kurzen Aufschrei. Die Lebenszeichen ihres Kindes wurden mit jedem Tag energischer. Keine ihrer Töchter hatte je so stürmisch um Aufmerksamkeit geheischt. Sollte das tatsächlich ein Beweis sein, dass es ein Sohn werden würde? Die Wehmutter, die Séverine ihr zugeführt hatte, war von stoischer Ruhe. Sie wusste mit derlei Fragen umzugehen.
»Mag schon sein«, hatte sie in ihrem ländlichen Dialekt genuschelt. »Aber mein Augenlicht würde ich nicht darauf wetten. Jedes Kleine ist anders. Das Einzige, was man sagen kann, ist, dass dieses sich munter bewegt. Ich glaube nicht, dass es uns bis zur Adventszeit auf sein Erscheinen warten lässt.«
Jeanne fürchtete die Geburt und sehnte sie gleichzeitig herbei. Zwar war es Philippe gelungen, ihre Verbannung erträglicher zu machen, aber trotzdem litt sie darunter.
Nicht nur die Angst vor der Geburt, sondern auch die, sie könnte wieder ein Mädchen zur Welt bringen, verfolgte sie. Würde sie abermals versagen?
Ächzend erhob sie sich von ihrem Stuhl und stemmte die Hände in den Rücken, um das Gleichgewicht zu wahren. Die Last des Kleinen drückte zunehmend auf die Blase. Es trieb sie in immer kürzeren Abständen die acht Steinstufen zum privaten Ort hinauf und hinab.
Séverine hatte schon am ersten Tag dafür gesorgt, dass der zugige Aufgang neben der Tür mit einem Wandteppich verhängt wurde. Dort oben hatte man in luftiger Höhe einen Mauerdurchbruch angelegt, der nach draußen in einen überdachten Holzkasten führte. Der Erker enthielt lediglich eine schlichte Sitzgelegenheit mit einer entsprechenden Öffnung. Die Ausscheidungen gelangtem im freien Fall in den Wassergraben.
Auch ein mehrfach gedrehtes Seil, das, den Stufen entlang an der Wand befestigt, als Geländer diente, hatte man auf Séverines Anweisung angebracht. Sie bewachte mit Argusaugen jeden Schritt, den Jeanne tat. Auch jetzt hielt sie den Wandteppich zurück, um es ihr einfacher zu machen.
»Gut, dass du zurück bist«, stellte Jeanne so erleichtert fest, dass sie sich sofort dafür schämte.
Obwohl Séverine den größten Teil des Tages bei ihr verbrachte und auch des Nachts auf einem bescheidenen Lager vor ihrem Alkoven schlief, überfiel Jeanne bei jeder Trennung von ihr die dumme Angst, sie könne vielleicht nicht wiederkommen. Pontoise hatte ihr jedes Gefühl für Sicherheit genommen.
»Julien hat Nachricht von Adrien erhalten«, berichtete Séverine atemlos. Sie führte Jeanne zu ihrem Stuhl und wartete, bis sie es sich bequem gemacht hatte, ehe sie weitersprach. »Stell dir vor, der König hat sich tatsächlich zu Pferd nach Essonnes begeben können. Offensichtlich hat er sich in Poissy gut von seinem Jagdunfall erholt. Seine Ärzte hegen sogar die Hoffnung, dass er schon bald nach Fontainebleau weiterreisen kann. Dort wünscht er, bis zu seiner endgültigen Genesung, Residenz zu nehmen.«
»Heißt das, man kann auch wieder mit ihm sprechen?«, warf Jeanne ein.
»So ausführlich war die Botschaft nicht abgefasst. Philippe sendet dir seine herzlichsten Grüße. Er schließt dich und das Kind täglich in seine Gebete ein.«
Es war die erste Nachricht seit Philippes Abreise vor mehr als vier Wochen. Jeanne verspürte unendliche Erleichterung. Auch sie hatte gebetet, für ihren Mann und für die Gesundheit des Königs. Séverine hatte sie mehr als einmal beruhigt, dass es ein gutes Zeichen sei, keine Nachrichten zu bekommen. Es deute darauf hin, dass nichts Schreckliches geschehen sei. Etwas Persönliches von
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