Turm der Lügen
Philippe zu hören machte sie dennoch ruhiger.
Der König befand sich auf dem Weg der Besserung. Wie gut. Vielleicht konnte sie sich nun doch Hoffnungen machen, dass er sie in Gnaden wieder aufnahm. Er war ihr einmal sehr zugetan gewesen. Gewiss konnte er ihr nach der Geburt eines Sohnes leichter verzeihen.
Erlöst verzichtete sie darauf, sich noch weiter auszumalen, was geschehen würde, wenn der zänkische Louis einmal auf dem Thron säße. Er glich seinem Bruder überhaupt nicht. Schon beim ersten Kennenlernen war sie darüber erleichtert gewesen. Welches Glück, mit Philippe verheiratet worden zu sein. Er war damals erst vierzehn und damit zwei Jahre jünger als sie gewesen, doch das hatte sie beide nie gestört. Schon als Jüngling war er reifer, als seine Jahre vermuten ließen.
Für ihre Cousine Marguerite, die zu jener Zeit fünfzehn Jahre alt und schon zwei davon unglücklich mit dem 18 -jährigen Thronfolger verheiratet war, hegte sie seitdem spontanes Mitgefühl und Freundschaft. Als ihre Schwester Blanche und Charles, der dritte Königssohn, im Alter von dreizehn und vierzehn, ein Jahr später ebenfalls heirateten, wurde aus dem Zweierbund der königlichen Schwiegertöchter ein Trio. Es war ihr bis heute unbegreiflich, wie dieser Bund zerbrechen konnte. Warum hatten sich die schrecklichen Ereignisse nicht verhindern lassen?
»Der König hat Louis nach Provins geschickt, teilt uns Adrien außerdem mit. Er soll dort im Namen der Krone mit den aufständischen Adeligen der Champagne verhandeln«, riss Séverine Jeanne aus ihren Grübeleien.
»Verhandeln heißt bei Louis mit Waffengewalt drohen. Von Diplomatie hat er keine Ahnung. Hoffentlich hat der König keinen Fehler gemacht, als er …«
Jeanne brach mitten im Satz ab. Irritiert von einem jähen Schmerz in ihrem Rücken.
»Was ist mir dir?« Séverine war augenblicklich alarmiert.
»Ich weiß es nicht.« Jeanne schüttelte den Kopf. »Es kann unmöglich schon so weit sein, egal was die Wehmutter sagt. Es war noch keine Wehe. Wehen kenne ich, bei Gott. Das hier war anders.«
Séverine musterte sie besorgt. Die Vorhersage eines genauen Geburtstermins war auch für erfahrene Wehmütter schwierig. Wie sicher die Dorfhebamme von Dourdan in ihren Prognosen war, konnte sie nicht beurteilen.
»Du siehst müde aus. Du solltest dich hinlegen, Jeanne. Die Neuigkeiten regen dich auf. Vielleicht ist es auch der Nebel, der dir zusetzt.«
Seit Tagen lag die Burg in einem dichten Nebelschleier. Feuchtigkeit drang durch alle Mauerritzen. Nur der Platz im Lehnstuhl unmittelbar vor dem Feuer, in dem Jeanne saß, war eine Insel der Wärme. Trotzdem überlief es sie kalt. Die Angst um das Ungeborene war zu ihrem ständigen Begleiter geworden.
»Ich löse dir die Bänder. Komm, lass dir helfen.«
Séverines Fürsorge verstärkte ihr ungutes Gefühl. Jeanne ergriff ihre Hände und presste sie mit aller Kraft.
»Ich darf dieses Kind nicht verlieren, verstehst du das? Obwohl ich eingekerkert bin und keinen Finger rühren kann, würden sie alle mir die Schuld geben. Philippe. Der König. Unsere Mutter.«
»Du wirst es nicht verlieren. Du solltest so etwas nicht einmal denken. Reiß dich zusammen.«
»Du klingst wie unsere Mutter.«
Das Gesicht verziehend, löste Séverine vorsichtig ihre Hände. Jeder Hinweis auf Mahaut missfiel ihr. Sie zog Jeannes Gewandschlaufen auf und streifte das Oberkleid nach unten ab. Als die Schwangere nur noch das weite Hemd mit dem Bandzug um den Hals trug, wölbte sich ihr Leib wie eine Kugel unter dem Stoff.
»Steig in den Alkoven und strecke dich aus. Versuche ein wenig zu schlafen.«
Wie üblich entspannte Jeanne sich unter Séverines Fürsorge. Zuversicht und Ruhe kehrten zurück. Sie war dankbar für die schwesterliche Zuwendung. Besonders für ihr schelmisches Lächeln, das immer wieder aufblitzte, wenn sie sich unterhielten. Es hellte ihre Stimmung auf, und sie versuchte, es sorglos zu erwidern.
»Wir wollen nicht unvorsichtig sein«, sagte Séverine. »Ich hole für alle Fälle die Wehmutter. Sie ist vorhin zur Dorfschenke gelaufen, weil dort ein fahrender Händler Gewürze und Tinkturen verkauft.«
Jeanne nickte erleichtert.
»Jacquemine würde mich schelten«, entgegnete sie einsichtig. »Sie fand bei jeder meiner Schwangerschaften, dass ich meinen Empfindlichkeiten zu sehr nachgebe. Es sei nichts Besonderes, ein Kind zur Welt zu bringen, pflegte sie zu sagen. Jede Bäuerin und jede Milchmagd überstehe es. Ich solle
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