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Turm der Lügen

Turm der Lügen

Titel: Turm der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Cristen
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mich nicht von einfachen Frauen beschämen lassen.«
    Aller Einsicht zum Trotz überfiel sie die Verzagtheit von neuem, sobald sie allein blieb. Die Bewegungen ihres Kindes, vorhin noch so ungestüm, dass sie nach Luft schnappen musste, hatten inzwischen ganz aufgehört. Besorgt tastete sie ihre Bauchdecke ab.
    Der Schmerz setzte so unverhofft wieder ein, dass Jeanne aufschrie. Etwas tief in ihr brach auf. Erschreckt warf sie die Decke von sich.
    Fruchtwasser und Blut durchnässten ihr Gewand, die Matratze, die Decken. Unfähig, das Verhängnis aufzuhalten, starrte sie auf die sich ausbreitende Flüssigkeit unter ihrem Schoß.
    »Séverine!«
    Die eigene Stimme, tonlos und dünn, trug kaum durch die Kammer. Blankes Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu. Drei Kinder hatte sie geboren, umsorgt von einem Hofstaat aus Hebammen, Ehrendamen, königlichen Ärzten und zahllosen Mägden. Allein und ohne Hilfe wusste sie nicht, was sie tun sollte.
    Die nächste Wehe entriss ihr ein heiseres Stöhnen.
    Als Séverine und die Wehmutter nach kurzer Zeit eintrafen, krümmte sich Jeanne unter Schmerzen. Die Wehen kamen in so kurzen Abständen und waren von solcher Heftigkeit, dass sie nur noch schreien konnte.
    »Was für eine Bescherung«, schimpfte die stämmige Frau. »Warum habt Ihr mich nicht eher geholt? Sputet Euch, wir brauchen warmes Wasser, frische Tücher. Ich fürchte, das wird schwierig.«
    Die Stimmen drangen kaum in Jeannes Bewusstsein. Sie umklammerte den Arm der Hebamme, während diese ihr das nasse Hemd auszog. Séverine wechselte eilig die beschmutzten Laken.
    »Das Kind muss leben. Um jeden Preis. Hört ihr!«, schrie Jeanne mit letzter Kraft.
    »In Eurer Lage helfen nur Gebete und keine Befehle«, erwiderte die Frau nüchtern. »Atmet mit der Wehe, dann lässt sich der Schmerz besser ertragen.«
    Der gute Ratschlag verhallte ungehört. Jeanne bäumte sich unter dem nächsten Ansturm der Qual auf. Es zerriss sie inwendig vor Schmerzen.
    Die bisherigen Geburten waren langwierig und quälend gewesen, aber niemals hatte sie so schreckliche Krämpfe ausstehen müssen. Würde dieses Kind sie das Leben kosten?
    Dann wären die Schmerzen vorbei.
    »Jeanne! Jeanne! Gib nicht auf. Kämpfe! Denke an dein Kind, an deine Töchter. Sie alle brauchen dich. Philippe braucht dich.«
    Konnte Séverine ihre Gedanken lesen?
    »Du weißt … nicht, wie weh es tut …«
    »Trink, das wird dir helfen.«
    Der Rand eines Bechers berührte ihren Mund. Flüssigkeit rann heiß die Kehle hinunter.
    »Jesus Christus, das ist nicht der Kopf.« Der Ausruf der Wehmutter übertönte Séverines Worte und Jeannes Keuchen.
    »Das Kind liegt falsch. Man muss es ihr gewaltsam aus dem Leib holen«, fügte sie nüchtern hinzu.
    Entsetzen verschlug Jeanne den Atem. Sie würde sterben. Sie verlor das Bewusstsein.
    »Wartet. Auf diese Weise bringt Ihr Mutter und Kind um«, widersetzte sich Séverine beim Anblick des eisernen Instrumentes, das die Wehmutter dafür aus ihrem Korb holte. »Wenn sie ohnmächtig ist, könnt Ihr doch wenigstens mit der Hand …«
    »Der Damm reißt!«
    Séverine verlor den Überblick, während die Wehmutter das winzige Lebewesen auffing, das Jeanne jetzt völlig überstürzt gebar. Sie wagte der Frau nicht in die Quere zu kommen. Ihre Handgriffe wirkten sicher. Sie schien zu wissen, was sie tat.
    »Da ist die Nachgeburt, nehmt das Kleine. Wenn sie bald zu bluten aufhört, kann sie es überleben. Welch ein Glück, dass das Kind so winzig und leicht ist. Ein Größeres hätte die Tortur nicht lebend überstanden. Aber ob ein solcher Winzling lange durchhält? Man sollte das Wurm besser gleich taufen, damit es wenigstens als Kind Gottes stirbt.«
    Séverine sah auf das hastig abgenabelte Neugeborene, das zerbrechlich zart in ihren Händen atmete. Unendliche Liebe überflutete sie. Ihre Nichte. Ein Mädchen.
    »Still!«, herrschte sie die Wehmutter voller Empörung an. »Kümmert Euch um die Mutter und überlasst mir das Kind. Es wird leben.«
    Ein dünner Laut, ähnlich dem Quietschen eines Kätzchens, riss Jeanne aus den Abgründen ihrer Benommenheit. Wie viel Zeit war vergangen? Sie hatte keine Ahnung. Sie fühlte sich dem Sterben nahe, öffnete unter Anstrengung die Augen, musste mit jeder Silbe kämpfen.
    »Gebt mir meinen Sohn …«, bat sie.
    Wenigstens einmal wollte sie den Knaben im Arm halten, ehe ihr geschundener Körper für immer aufgab. Sie wollte ihn küssen. Ihm sagen, dass seine Mutter mit Freuden ihr Leben

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