Turm der Lügen
erhält und ein Quartier für die Nacht. Bei Sonnenaufgang verlassen wir Dourdan.«
Séverines Gedanken überschlugen sich. Es fiel ihr schwer zu gehorchen. Adrien nicht einmal begrüßen zu dürfen war bitter.
Der gewundene Steinstufenaufgang, der zu Jeannes Tür hinaufführte, hatte fatale Ähnlichkeit mit dem Aufgang im
Tour de Nesle.
Schon deshalb war ihr die Treppe zuwider. Am liebsten wäre sie gar nicht hinaufgestiegen, aber sie tat es natürlich. Philippe hatte bereits einen Teil der Hiobsbotschaft überbracht, als sie bei Jeanne eintrat.
Die Nachricht hatte Jeanne in neue Schrecken versetzt. Die Hände beschützend auf den gewölbten Leib gelegt, stand sie neben dem mannshohen Kamin, während Philippe beruhigend auf sie einsprach. Sie fröstelte.
»Ich schicke dir Julien mit einer Nachricht, sobald ich mehr weiß. Über ihn und Séverine wirst du alles erfahren. Was immer geschieht, du bist hier in Sicherheit. Wir haben alles besprochen. Vertraue mir.«
»Und wenn der König seinen Verletzungen erliegt? Wenn Louis den Thron von Frankreich besteigt? Der Zänker, der die Ehebrecherinnen mit unversöhnlichem Hass verfolgt? Wie willst du ihn davon abhalten, uns alle drei zum Tode zu verurteilen?«
»Du bist keine Ehebrecherin, also kann er dich auch nicht als eine verurteilen.«
Séverine sah zu Boden. Die innige Umarmung des Paares und seine Liebesbezeugungen stimmten sie traurig und waren ihr zugleich peinlich. Warum hatte Philippe auf ihrer Begleitung bestanden?
»Mut, mein Herz. Lass dir von Séverine zu Bett helfen. Du musst an dich und das Kind denken.«
Jeanne ließ sich einmal mehr von ihm beschwichtigen. Mit Beginn der Nacht war Séverine von ihren Pflichten entbunden. Philippe blieb an der Seite seiner Frau.
Sie war frei, zu Adrien zu eilen. Wo steckte er? Sie war nicht seine Frau, konnte also seine Nähe nicht fordern. Dennoch drängte sie alles danach, den Weg in seine Arme zu finden. Allein, wo sollte sie in dieser rabenschwarzen Dunkelheit mit der Suche nach ihm beginnen?
Wie von selbst führten sie ihre Schritte zu den Pferden, zu Marjolaine. Remy hatte ihr einen neuen Platz zugewiesen. Sie stand neben nachlässig aufgestapelten Strohbündeln. Kaum mehr als ein leises Schnauben durchbrach die Stille, als Séverine ihre Flanke tätschelte.
»Schon gut, ich bin es«, flüsterte sie, im Wissen, dass Marjolaine genauso wenig sah wie sie.
Plötzlich spürte sie den festen Griff zweier Hände, die unverhofft ihre Taille umspannten und sie mit Leichtigkeit auf die Strohballen hoben. Adrien. Sie wusste es in dem Augenblick, in dem er sie berührte.
Wortlos fanden sich ihre Lippen in der Finsternis. Er hatte Wein zum Nachtmahl getrunken, schmeckte Séverine. Sie tastete mit den Fingerspitzen sein Gesicht ab. Sie fühlte Bartstoppeln, hervorspringende Wangenknochen und aufgesprungene Lippen. Er war ohne Rücksicht auf seine Gesundheit nach Dourdan geeilt.
»Was wird aus uns, wenn der König stirbt?«, wisperte sie und zog die Nadeln aus dem Leinen der Haube. »Der Zänker hat keinen Grund, auf Philippe zu hören, wenn er erst einmal die Krone trägt.«
»Ich kann es dir nicht sagen«, antwortete Adrien ehrlich. Er fuhr mit den Händen durch Séverines Locken und zog ihren Kopf an seine Schulter. »Wir müssen beten, dass der König wieder gesund wird.«
Séverine verzichtete auf weitere Fragen. Es hatte wenig Sinn, Adrien zu bedrängen. Er suchte Frieden und Vergessen bei ihr, keine zusätzlichen Probleme.
»Alles wird sich finden«, flüsterte sie kaum hörbar und schlüpfte mit ihrer Hand unter das saubere Hemd, das er nach dem Besuch in der Badestube der Burg trug. Seine Wärme und seine Stärke besänftigten auch ihre Ängste. »Uns bleiben Stunden bis Sonnenaufgang. Wir wollen sie nicht mit Politik und ungelösten Fragen vertun …«
Wie ausgehungert drängten ihre Körper zueinander. Einmal mehr liebten sie sich auf einem Bett aus Stroh, aber Adriens Zärtlichkeiten waren heute anders: Gieriger. Hungriger. Härter. Verzweifelter.
Séverine verstand, was ihn dazu trieb, und ließ ihn gewähren, auch wenn er sie ein wenig erschreckte. Beide wollten auf diese Weise die Wirklichkeit für kurze Zeit vergessen. Der Einklang ihrer Körper und Seelen schenkte ihnen auf wundersame Weise Kraft und Hoffnung für eine ungewisse Zukunft.
Völlig ermattet lagen sie auf dem Stroh, als der Morgen heraufdämmerte.
Wieder ein Abschied. Adrien kniete neben ihr, angezogen, die Waffen angelegt. Er
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