Turm der Lügen
königliche Hoheit. Erst wenn seine Majestät wieder zu sich kommt, können wir abschätzen, welche Folgen der zweite Anfall hat.«
Die leblose Gestalt auf dem Bett warnte Philippe vor übertriebenen Hoffnungen. Während Louis und Charles die Ärzte mit Fragen überhäuften, versuchte er im Gesicht des Ohnmächtigen zu lesen. Selbst in diesem menschlichsten aller Augenblicke sah er ihn eher als König denn als Vater.
Er regierte seit dreißig Jahren. Seine Untertanen, die den Siebzehnjährigen, der seinem Vater auf den Thron gefolgt war, einmal begeistert den Schönen genannt hatten, liebten ihn schon lange nicht mehr. Unter seiner Regierungszeit war die königliche Rechnungskammer zu einem gefräßigen Moloch geworden, in dem Kopfsteuer, Salzsteuer und andere Abgaben auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Seine Konflikte mit der Kirche, seine strengen Beamten, seine Münzverschlechterungen und seine übertriebene Frömmigkeit hatten ihn nach und nach die Wertschätzung seiner Untertanen gekostet.
Aus den Augenwinkeln sah Philippe, dass Valois und Evreux näher traten. Die Brüder des Königs. Evreux’ Anwesenheit lenkte seine Gedanken nach Dourdan. Wie ging es Jeanne? Das Kind musste nun bald kommen. Ein Sohn? Wenn der König wenigstens so lange am Leben bliebe, bis er ihm diese gute Nachricht überbringen konnte.
»Entfernt Euch!«, befahl Louis. Die Ärzte hatten ihm geraten, für Ruhe zu sorgen und den Hofstaat hinauszuschicken.
Philippe winkte Adrien zu sich.
»Sorge dafür, dass ein Kurier bereitsteht. Wenn es wirklich zum Schlimmsten kommen sollte, müssen Jeanne und Séverine unverzüglich informiert werden«, sagte er leise.
Ihre Blicke trafen sich. In Gegenwart seiner Brüder und Onkel musste er vorsichtig sein. Adrien verneigte sich und verschwand in der Menge nach draußen.
Philippe trat zum Alkoven. Was empfand er? Die Gewissheit, dass er auf einen Sterbenden sah, wollte sich nicht vertreiben lassen.
»Philippe, gib mir zu trinken … Ich muss meine …Angelegenheiten regeln …« Abgezehrte Hände griffen nach seinen Handgelenken, überraschend stark, aber sehr kalt.
Es ging zu Ende mit Philippe dem Schönen.
Der Nachmittag wurde zum Abend, zur Nacht. Am Morgen des 29 . November schüttelten die Ärzte nur noch die Köpfe. Der König verfiel zusehends. Wenn er nicht vor sich hin dämmerte, diktierte er einem Schreiber in wirrer Folge Anweisungen, Vermächtnisse. Er gab mit vollen Händen, wo er lebenslang gespart hatte.
Philippe sah Louis immer ärgerlicher werden. Manchmal hatte es sogar den Anschein, als wolle er dem Vater ins Wort fallen. Wie lange würde er noch schweigen?
»Jeanne!«
In jäher Hoffnung fuhr Philippe auf. Dachte der König in seiner letzten Stunde tatsächlich an Jeanne?
»Jeanne … meine Königin …«
Nein.
»Er meint unsere Mutter.«
Philippe sank in sich zusammen. Charles fasste nach seinem Arm.
»Lasst uns für seine Majestät beten.«
Der Beichtvater des Königs salbte ihm Stirn und Hände. Seine murmelnde Stimme durchbrach die Stille. »Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen …«
Der Sterbende konnte nicht mehr sprechen. Seine Augen starrten gläsern und abwesend in den Betthimmel. Die Brust hob und senkte sich in immer größeren Abständen. Philippe bezweifelte, dass er die letzte Ölung tatsächlich noch wahrnahm.
Durch die offenen Türen des Gemachs drängte der Hofstaat wieder herein. Vor den Augen und Ohren des Hofes tat sein Vater die letzten schweren Atemzüge. Im Gemurmel der Gebete und Fürbitten blieb geraume Zeit verborgen, dass sein Leiden beendet war.
Philippe bemerkte es als Erster. Er verstummte, starrte in das Antlitz, das sich, wie von unsichtbarer Hand berührt, verändert hatte. Die edlen Züge kamen wieder zum Vorschein.
»Der König ist tot. Es lebe der König.«
Valois, der Bruder des Verstorbenen, stieß den traditionellen Ruf aus. Er ehrte auch Louis mit dem ersten Kniefall. Der Hof folgte. Die Prinzen von Geblüt, die Pairs der Kirche und des Adels sowie die Mitglieder des Rates und die Beamten des königlichen Hofes grüßten ihren neuen König. Auch Philippe und Charles sanken vor ihm auf die Knie.
Die offizielle Floskel, mit der kundgetan wurde, dass die Krone ihren Besitzer wechselte, raubte dem Toten jede Aufmerksamkeit.
Alles konzentrierte sich auf Louis, den neuen König von Frankreich. Philippe entging weder der befriedigte Ausdruck in seinen Augen noch das Beben, das durch
Weitere Kostenlose Bücher