Turm der Lügen
seine schmächtige Gestalt lief. Er war beileibe keine majestätische Erscheinung. Die schmalen Schultern, die dünnen Beine und der etwas zu groß geratene Kopf gaben ihm eher die Statur eines Hofnarren als die eines Fürsten. Dennoch war er von diesem Augenblick an nicht länger nur sein Bruder, sondern sein oberster Herr und Souverän.
»Ich danke Euch«, hörte er Louis verkünden. »Lasst uns für den König, unseren geliebten Vater, beten. Dann leitet alles in die Wege, damit er zu seiner Beisetzung nach Saint Denis gebracht werden kann. Dort, an der Seite seines Großvaters und seines Vaters, soll er in der Gruft der Könige von Frankreich seine letzte Ruhe finden.«
Philippe war wie betäubt von den Ereignissen. Er kämpfte darum, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Zu seinem eigenen Erstaunen empfand er tiefe Trauer. Schmerzlichen Verlust.
Es blieb ihm nur wenig Zeit, bis er sich mit seinen Brüdern zur ersten Totenwache einfinden musste. Bis dahin würde der Tote gewaschen, angekleidet und aufgebahrt werden.
Er sehnte sich nach frischer Luft, nach einem Augenblick des Besinnens ganz für sich allein. Er trat durch eine Seitentür, durchquerte das Ankleidezimmer des Verstorbenen und erreichte einen Korridor, der direkt zu einem Seiteneingang führte.
Es schneite, als er ins Freie trat. Noch immer oder schon wieder? Das Gefühl für Zeit war ihm abhandengekommen. Mit geschlossenen Lidern hob er das Gesicht zum Himmel. Schneeflocken kühlten ihm Stirn und Wangen. Der Druck hinter seinen Schläfen ließ nach. Er konnte wieder denken.
Was erwartete Frankreich unter der Regierung des neuen Königs? Krieg mit Flandern? Krieg mit dem Adel? Was würde mit Jeanne geschehen?
»Monseigneur!«
Eine Gestalt tauchte aus dem Zwielicht auf. Der nasse Umhang, die Schlammspritzer und die Atemlosigkeit verrieten Eile. Philippe erkannte Julien. Das bedeutete Neuigkeiten von Jeanne. Hatte sie ihr Kind zur Welt gebracht?
»Bist du auf dem Weg zu deinem Herrn? Welche Nachricht bringst du aus Dourdan?«
»Ihr seid Vater einer gesunden Tochter geworden, Monseigneur. Ich bin so schnell geritten, wie ich konnte.«
Der Knappe zögerte. Philippe schwieg. Sein Magen verkrampfte sich.
»Der Priester hat sie auf den Namen Blanche getauft «, fuhr Julien fort. »Blanche, wie es ihre Mutter, die Frau Gräfin, befahl. Séverine lässt Euch sagen, dass es Eurer Gemahlin den Umständen entsprechend gutgeht. Ihr müsst Euch keine Sorgen machen. Doch Eure Tochter ist recht klein, und niemand kann sagen, ob sie unter solchen Umständen diesen Winter überlebt.«
Eine vierte Tochter. Philippe bedeckte die Augen mit dem Handrücken. Warum verweigerte ihm das Schicksal den ersehnten Sohn?
Julien trat von einem Bein aufs andere. Er war völlig durchnässt und klapperte mit den Zähnen.
Das Geräusch drang in Philippes Bewusstsein. Er musste sich aus seiner Niedergeschlagenheit befreien. Der Junge konnte schließlich nichts für die Nachricht.
»Du findest deinen Herrn in meinem Quartier. Überbringe ihm die Botschaft. Wenn du zurückreitest, möchte ich dir eine Nachricht mitgeben.«
»Ich werde mich gerne melden, Monseigneur. Gestattet Ihr mir eine Frage? Was findet im Schloss statt? Die vielen Lichter sind so ungewohnt. Es scheint große Aufregung zu herrschen. Wird ein Fest gefeiert?«
Die Frage erinnerte ihn wieder an den Tod des Vaters, der für einen Augenblick in den Hintergrund der Wahrnehmung getreten war. Schlagartig machte sie ihm seine ganze Hoffnungslosigkeit bewusst.
»Es ist eine Totenfeier, Julien. Der König ist tot. Es lebe König Louis.«
Julien hätte den letzten Satz wiederholen müssen, um der Sitte und der Höflichkeit willen. Die Worte blieben ihm im Halse stecken.
* * *
Die tagelangen Beisetzungsfeierlichkeiten in der Basilika von Saint Denis waren vorbei. Philippe der Schöne ruhte in der Gruft der Könige von Frankreich. Der gewaltige Trauerzug mit dem Sarg hatte sich von Paris bis Saint Denis gezogen. Im Palast auf der
Île de la Cité
machte sich Louis daran, die wichtigsten Positionen des Staates mit Männern seiner Wahl zu besetzen.
»Warum sitzt du hier herum? Du gehörst an den Hof, unter die Männer des Königs …«
Adriens Vater, der ihn so zurechtwies, war nach dem Trauerzeremoniell auf dem Heimweg nach Paris in einen Schneesturm geraten. Fiebernd und hustend lag er seitdem zu Bett. Besserung war nicht abzusehen. Adrien fürchtete mehr und mehr, dass seine Widerstandskraft
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