Turm der Lügen
erschöpft war.
»Ich diene Philippe, nicht Louis, Vater«, entgegnete er und drückte ihn behutsam in die Kissen zurück. »Beruhigt Euch bitte. Aufregung schadet Eurer Gesundheit.«
»Pah!«
Er war viel zu schwach, um mehr zu sagen. Die Augen hatte er geschlossen, und wenig später verrieten schwere Atemzüge, dass er eingeschlafen war. Adrien winkte dem Kammerdiener, der seine Pflege überwachte und ihm auch Nachricht von der Krankheit des Vaters gegeben hatte.
»Schickt auf der Stelle einen Boten in den Königspalast, wenn es ihm schlechtergehen sollte«, bat er ihn mit gedämpfter Stimme. »Er findet mich dort in den Räumen des Grafen von Poitiers.«
Philippe erwartete ihn. Seine Geduld noch länger auf die Probe zu stellen wagte er nicht. Sollten sie das Schicksal teilen, beide zur gleichen Zeit den Vater zu verlieren? So mächtig und dominierend diese Väter auch gewesen waren, ihr Leiden und Sterben setzte ihren Söhnen gleichermaßen zu.
Als er das Tor des Hauses aufstieß, wurde eben ein Tragestuhl davor abgestellt. Einer der bulligen Träger, in der Livrée des Hauses Artois, öffnete ihn. Er half Mahaut vorsichtig beim Aussteigen. Fluchend raffte sie ihre Röcke, um nicht mit dem Matsch in Berührung zu kommen. Die Kälte hinterließ rote Flecken auf ihren schlaffen Wangen. Ihre Stimme klang scharf, als sie auf Adrien zutrat.
»Wie geht es ihm?«
Dass die Gräfin es auf sich nahm, einen Krankenbesuch bei ihrem Gefolgsmann zu machen, verwunderte Adrien. War doch etwas an den Gerüchten, dass die beiden einmal mehr verbunden hatte als nur das Lehnsverhältnis?
Er verneigte sich und verzichtete darauf, so zu tun, als wisse er nicht, von wem sie sprach.
»Schlecht, Madame«, antwortete er knapp. »Der Husten will nicht weichen, und keine der Arzneien schlägt an. Ich rechne mit dem Schlimmsten.«
»Gott, was für ein schrecklicher Winter.« Mahaut schauderte sichtlich. »Die besten Männer sterben, und im Palast regiert ein Jüngelchen, das zu keiner gerechten Handlung fähig ist.«
»Was ist geschehen?«
Bislang hatte Mahaut den Schein gewahrt und den Zänker, den sie im weitesten Sinn auch zu ihren Schwiegersöhnen zählte, nicht auf offener Straße beleidigt.
»Der König hat angeordnet, die kleine Jeanne, seine eigene Tochter, habe im
Tour de Nesle
Wohnung zu nehmen. Er wünscht sie nicht bei Hofe zu sehen. Er verbannt sie in den Schatten des Turms, den ihre Mutter mit Lügen und Leichtsinn gefüllt hat. Nicht einmal eine standesgemäße Erziehung will er ihr zukommen lassen. Das Kind ist erst drei. Es begreift nicht, was da geschieht. Dabei muss man die Kleine nur anschauen. Sie ist Louis wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Mahauts rechtschaffene Empörung verblüffte Adrien. Seit wann kümmerte sich diese Frau um das Schicksal von Kleinkindern?
Es fiel ihm schwer, die Etikette zu wahren. »Erlaubt, dass ich Euch ins Haus geleite, Madame. Dies ist kein Gespräch für die Straße.«
»Ich brauche Euch nicht, um meinen Frieden mit Eurem Vater zu machen, junger Mann«, wies ihn Mahaut schroff ab. »Wahrscheinlich seid Ihr unterwegs zu Philippe. Ihr könnt meinem Schwiegersohn einen Rat von mir überbringen. Er soll sich in Geduld üben. Louis zu bedrängen, solange ihn die Pariser hinter seinem Rücken einen Hahnrei nennen, ist sinnlos. Sein Hass auf die Ehebrecherinnen ist größer als jede Vernunft. Er mag jetzt unser aller König sein, aber er ist nicht besonders klug. Brächten ihm seine Untertanen mehr Verehrung entgegen, hätten wir bessere Chancen.«
Sie rauschte an Adrien vorbei die drei Stufen des Hauses hinauf, ohne einen Abschiedsgruß. Zeigte sie Schmerz, Trauer? War Mahaut zu Gefühlen fähig, die über Machthunger und Ehrgeiz hinausgingen? Bis heute hätte er es ohne nachzudenken verneint.
Geistesabwesend überquerte er die Brücke der Wechsler zur
Île de la Cité.
Zwischen den Brückenhäusern war der Schnee getaut, aber nachts gefror er wieder. Die Seine wälzte sich schwerfällig nach Westen. Es geschah nicht oft, dass der Fluss zufror, aber Adrien kam es vor, als trieben bereits erste Eisbrocken die Seine abwärts. Die Wolken hingen so tief, dass sie die Türme von Notre-Dame einhüllten. Die wenigen Pariser, die gleich ihm unterwegs waren, suchten eilig die Wärme von Häusern und Schenken.
* * *
Philippe rieb sich im Palast die Hände über einem Glutbecken. Er trug einen ärmellosen, pelzgefütterten Mantel über dem Wams. Seine Miene verhieß nichts Gutes.
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