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Turm der Lügen

Turm der Lügen

Titel: Turm der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Cristen
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Julien und vielleicht Rémy wusste niemand, wie viel Marjolaine ihr bedeutete. Wie viele Erinnerungen, wie viel Herzblut da im Schnee versickerte.
    Julien zerrte und zog so lange an Séverine, bis sie sich mechanisch in Bewegung setzte. Ihr war übel vom bleiern süßlichen Gestank des Pferdeblutes, der die Luft erfüllte. Galle stieg in ihr auf, Abscheu und Verzweiflung. Sie riss sich von ihm los.
    »Du hast davon gewusst«, sagte sie tonlos.
    Er wich ihrem Blick aus.
    »Was hätte ich tun sollen? Der Hauptmann musste sich für eines der Pferde entscheiden. Wisst Ihr, was ein Destrier wert ist? Und was ein Zelter? Ich konnte keinen Anspruch auf das Pferd anmelden. Meinem Bruder zuliebe musste ich schweigen und Fragen vermeiden.«
    Dass dies kein Trost für Séverine war, sah auch Julien ein. Für sie war nicht nur Marjolaine gestorben, sondern die letzte Verbindung zu Faucheville abgerissen. Das Tier war ihr in den vergangenen Monaten Trost und Halt gewesen. Ihre einzige lebendige Verbindung zu Adrien. Ein Wesen, dem sie sich mitteilen konnte.
    Julien wollte nicht nachlassen im Versuch, sie zu trösten. »In einem Winter wie dem heurigen geht es ums Überleben. Ihr wisst nicht, was es heißt, vor Hunger zu sterben. Dort draußen strecken die Menschen das Mehl für ihr tägliches Brot bereits mit gemahlener Buchenrinde. Frauen kochen Gras und Wurzeln, weil ihre Kinder vor Hunger weinen. Dourdan ist eingeschneit. Ehe die Kälte bricht, können wir nicht auf Hilfe von außen rechnen.«
    »Sei still. Ich bitte dich.«
    »Aber ja doch, ich will nur sagen, dass ich weiß, wie Euch ums Herz ist. Aber …«
    »Sei still«, wiederholte eine Männerstimme Séverines Aufforderung. »Sieh lieber zu, dass die Ziege ihr Futter bekommt und bewache sie.«
    Julien zog den Kopf zwischen die Schultern und ging sichtlich erleichtert davon.
    Séverine achtete weder auf ihn noch auf Rémy. Blind für ihre Umgebung, schlitterte sie in halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Holzbrücke zum Wohnturm, durchquerte die leere Wachstube und eilte die Stufen hinauf. Auf halber Höhe hielt sie inne und lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Mauer. Bevor sie zu Jeanne ging, musste sie sich erst beruhigen.
    Es dauerte eine Weile, bis sich das Rauschen in ihrem Kopf ein wenig legte. Die Augen öffnend, entdeckte sie auf der anderen Seite der Treppe Rémy. Er war ihr gefolgt. Er stand eine Stufe tiefer, sah sie an und wartete.
    »Geh«, sagte sie gequält.
    »Nein.«
    Er trat vor sie und zog sie in seine Arme. Seltsamerweise verspürte Séverine nicht das Bedürfnis, sich aus dieser Umarmung zu befreien.
    »Am liebsten möchte ich weinen, doch es hat keinen Sinn«, murmelte sie heiser. »Es macht sie nicht wieder lebendig. Weinen ändert nie etwas.«
    »Weint«, erwiderte er ruhig. »Das erleichtert. Ihr müsst nicht allen Schmerz in Euch hineinfressen.«
    »Ich habe Tapferkeit gelernt, seitdem ich laufen kann. Mir ist im Leben wenig geschenkt worden«, antwortete sie spröde. »Lass mich allein. Man wird sich sonst wundern, was du hier treibst.«
    »Es ist niemand unten, der mich bemerkt hat. Seit es so viele Kranke gibt, verzichtet der Hauptmann darauf, Euch bewachen zu lassen. Er geht davon aus, dass der Schnee und die Kälte ihm die Arbeit abnehmen.«
    Obwohl Séverine es nicht zugeben wollte, tat ihr die Nähe Rémys gut. Sowohl die körperliche Wärme wie die mitfühlenden Worte. Ihm musste sie nicht erzählen, wie ihr ums Herz war. Er hatte Schlimmeres erlebt als den Tod eines Pferdes. Fast alle Tempelritter waren ermordet worden. Er hatte Freunde und Kameraden verloren, und trotzdem war sein Herz nicht versteinert.
    »Hab Dank.«
    Er hielt sie nicht fest, als sie sich von ihm löste und frierend die Arme vor der Brust kreuzte.
    »Ich habe mich jämmerlich aufgeführt. Sag Julien einen Gruß«, bat sie ihn. »Es täte mir leid, dass ich so grob mit ihm war. Er handelte in bester Absicht. Er wollte mir den Anblick ersparen. Ich hätte auf ihn hören sollen.«
    »Ich werde dafür sorgen, dass man Euch nichts von dem Fleisch bringt«, sagte er ruhig. »Ich kenne ein paar gute Plätze zum Fallenstellen. Es sollte mir gelingen, einen Hasen für Euch zu erwischen. Am besten bleibt Ihr im Turm, dort seid Ihr in Sicherheit.«
    »Du vergisst die Kranken im Mannschaftsquartier. Sie rechnen mit meiner Hilfe.«
    Sie schenkte ihm ein Lächeln, halb dankbar und halb erstaunt darüber, dass er ihr nicht widersprach, ehe sie die letzten Schritte zur

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