Turm der Lügen
Tür hinaufging.
* * *
Wie lange sie das Geräusch schon wahrgenommen hatte, konnte Jeanne nicht sagen. Sie saß vor dem Feuer, das schlafende Kind auf dem Schoß, und schaute gedankenverloren in die Flammen. Das Tropfen war leise, kaum hörbar. Séverine kauerte auf der Steinbank in der Fensternische und säumte lustlos ein Stück Leinen. Ehe unter ihren Händen ein Hemdchen für Blanche entstand, verging eine Menge Zeit. Sie hatte viele Talente, nähen gehörte nicht dazu.
Vorsichtig, um die Kleine nicht zu wecken, richtete Jeanne sich auf und brachte sie in ihren Korb zurück. Dann ging sie zu Séverine. Sie trat näher, löste den Riegel und stieß das Fenster auf. Der erwartete kalte Luftzug blieb aus.
»Es taut! Sieh nur, Séverine, der Schnee rutscht vom Dach. Ich kann den Saum des Waldes wieder erkennen! Der Winter scheint endlich zu weichen.«
Ihre Begeisterung fand kein Echo. Séverine reagierte nicht. Ihr nimmermüder Elan schien gebrochen. Sie war dünn geworden. Ihre Augenbrauen bildeten dunkle Striche auf durchsichtiger Haut, unter den Augen lauerten bläuliche Schatten.
Jeanne nahm es erschrocken wahr. Bisher war immer Séverine die Starke gewesen, die Verlässliche, die mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Immer baute sie eine Brücke, wenn Jeanne in ihrer Verzweiflung das Ufer aus den Augen verlor. Versanken nun die Brücken im Flussbett? Wollten die Fluten alles mit sich reißen und sie endgültig vernichten?
»Du schläfst nicht genügend«, mahnte Jeanne vorwurfsvoll. »Erst verbringst du die meisten Stunden der Nacht bei den kranken Kriegsknechten, und nun kümmerst du dich um Pater Philémon wie um dein eigenes Kind. Er hat Fieber wie alle anderen, weshalb umsorgst du ihn so viel mehr?«
Séverine legte ihre Arbeit zur Seite und rieb sich das Gesicht mit den Handflächen, ehe sie aufstand und sich reckte. Es hatte den Anschein, als habe sie mit offenen Augen geträumt.
»Weil er es verdient hat. Ich kenne keinen Menschen, der selbstloser und frömmer ist. Ich hoffe nur, seine Kräfte reichen bis zum Frühling. Und auch wenn die Straßen wieder frei sind, wird der Hunger nicht gleich zu Ende sein. Nicht nur in Dourdan werden die Vorräte restlos aufgebraucht sein.«
Inzwischen überschaute auch Jeanne die Notlage und widersprach Séverine. »Freie Straßen ermöglichen die Rückkehr der Händler. Es gibt sicher Spekulanten, die für diese Zeit Getreide, gesalzene Fische oder trockene Früchte gehortet haben.«
»Wo denkst du hin? Für Paris mag das vielleicht zutreffen. Für die wohlhabenden Bürger und den königlichen Hof. Die Armen sterben. Sie haben nichts, um die Wucherpreise deiner Händler bezahlen zu können. Vor der nächsten Ernte bleibt die Not ihr ständiger Begleiter. Auch unser nächstes Problem lauert schon im Vorratskeller: Salzmangel. In der Burgküche wird der Rest des Fasses bereits ins Unendliche gestreckt. Nichts macht die Menschen so müde und erschöpft wie Mangel an Salz.«
Beschämt wandte Jeanne den Blick ab und schlug das Fenster wieder zu.
»Mir kommt es so vor, als sei ich auch früher schon eingesperrt gewesen. Von der Wirklichkeit des Lebens und seinen Schwierigkeiten habe ich keine Ahnung.«
»Es ist nicht deine Schuld«, antwortete Séverine. »Woher sollst du wissen, was es bedeutet, zu hungern? Die Steuereintreiber des Königs sorgen seit jeher dafür, dass es dem Hof gut geht. In Faucheville habe ich da so einiges mitbekommen.«
Faucheville war das Maß aller Dinge für Séverine. Jeanne war das Lehen mittlerweile vertraut. Elvire, die tüchtige Köchin, Bagon, der Vogt, der Stallmeister und viele mehr hatte Séverine ihr bekannt gemacht. Fast beneidete sie sie um das schlichte, freie Leben, das sie in Faucheville geführt hatte. Es musste wunderbar gewesen sein, fernab von Mahaut und ihren hochfliegenden Erwartungen aufzuwachsen. Mit einem Beschützer wie Adrien, der ein Mädchen zum Träumen brachte.
»Wir müssen Philippe von der Not berichten«, sagte sie kurz entschlossen. »Julien muss sich nach Paris durchschlagen und Hilfe holen.«
»Rémy und Julien bewachen die Ziege«, entgegnete Séverine müde. »Das Risiko, sie ohne Aufsicht zu lassen, ist zu groß. Es ist schon schwierig genug, Futter für sie heranzuschaffen. Julien macht lange Streifzüge durch den Wald, um unter lockerem Schnee trockenes Gras, Bucheckern und Ähnliches für sie zu finden. Ich nehme an, in Paris wissen sie ohnehin, wie es um uns steht. Das ganze Land wird
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