Turm der Lügen
hat. Woher willst du wissen, dass nicht hinter allem ein tieferer Sinn liegt?«
»Welcher Sinn sollte das bitte sein?«
Tränen der Verzweiflung netzten Jeannes Wangen. Die kleine Blanche grapschte mit überraschend festem Griff nach ihrer Brust und versuchte zu saugen. Sie spürte die kleinen Kiefer, den gierigen Hunger des Kindes. Sie sah auf das blonde Köpfchen und begegnete seinen Augen. Hellbraun wie ihre eigenen und unverwandt auf ihr Gesicht gerichtet.
»Was soll aus ihr werden, Séverine?«, fragte sie niedergeschlagen. »Besser, ich hätte kein Kind geboren als eine vierte Tochter, die ich nicht einmal nähren kann. Es dauert mich tief, dieses kleine Wesen, das so unerwünscht und überflüssig auf dieser Erde ist.«
»Vielleicht wird sie die Königin, die unserem Land Frieden bringt. Oder eine Äbtissin und eine Heilige. Vielleicht auch eine mächtige Lehnsherrin wie Mahaut oder eine wundervolle Dichterin wie Marie de France. Alles kann sie werden, nur eine kleinmütige Gans wie ihre Mutter, das wird sie sicher nicht. Dafür werde ich sorgen, das verspreche ich dir.« Séverines Stimme bebte vor Zorn.
Es dauerte einen Augenblick, bis Jeanne begriff, was Séverine da sagte. Rote Flecken erschienen auf ihren Wangen. Sie zog ihre Tochter enger an sich. Blanche heulte protestierend auf.
»Und wie soll die kleinmütige Gans ihre Tochter am Leben erhalten? Verrätst du mir das auch, Schwester?«
»Mit Kuh-, Schafs- oder Ziegenmilch«, antwortete Séverine prompt.
»Und wie soll sie die zu sich nehmen? Sie kann weder von einem Löffel essen noch aus einem Becher trinken.«
Séverines Blick wurde sanfter.
»In Faucheville haben wir uns mit dem Horn einer jungen Kuh beholfen. Man hobelt es glatt und bohrt ein kleines Loch in die Spitze. Aus einem Stück von gesäubertem Pergament oder Tierdarm formt man eine Art winziger Wurst, gleich einer Brustwarze, die man über diese Spitze stülpt. An diesem Ding lässt man die Kleinen saugen. Irgendwann begreifen sie, dass sie auf diese Art und Weise ihren Hunger stillen können.«
»Und so habt ihr Kinder ohne Muttermilch und ohne Amme über den Berg gebracht?«
Jeannes Frage klang ungläubig. Jede ihrer Töchter war bisher unter Jacquemines Obhut von einer Amme versorgt worden. Nie zuvor hatte sie so unmittelbar mit einem Säugling zusammengelebt und seine Bedürfnisse selbst befriedigen müssen.
»Es war in allen Fällen erfolgreich, in denen die Kinder ansonsten gesund waren.«
»Es klingt unglaublich und doch einleuchtend, und ich scheine wirklich kleinmütig und dumm zu sein. Aber, sag bitte selbst, welche Mutter in meiner Lage wäre das nicht? Und es bleibt eine Tatsache, dass ich nur Mädchen auf die Welt bringen kann.«
Jeannes Selbsterkenntnis wandelte sich abermals in Niedergeschlagenheit. Séverine verweigerte jedes Verständnis. Sie dachte nicht länger über ihre Worte nach, sondern sprach aus, was direkt aus ihrem Herzen kam: »Weißt du, wie gerne ich mit dir tauschen würde? Es wäre mein größtes Glück, Adriens Kind in den Armen zu halten. Ich würde mein Herzblut dafür geben.«
»Auch Adrien würde Söhne von dir erwarten«, dämpfte Jeanne ihre Euphorie.
»Das mag schon sein. Aber Töchter werden gebraucht, um Söhne zur Welt zu bringen, auch wenn das viele Männer in ihrem Hochmut nicht wahrhaben wollen. Wir Frauen müssen für unsere Töchter in die Schranken treten. Sie sind nicht minderwertiger als Söhne. Sie bringen das Leben in die Welt. Männer vernichten es höchstens im Namen der Macht und des Ehrgeizes. Ich gehe jetzt. Julien muss das Horn einer jungen Kuh besorgen.«
»Ich habe mich völlig in meine Angst verrannt«, gab Jeanne einsichtig zu, während Séverine zuvor Blanche noch mit kundigen Griffen versorgte. »Sicher bin ich so kleinmütig, weil ich ständig Philippes Enttäuschung vor Augen habe. Seit dem Tod des Königs habe ich nichts mehr von ihm gehört. Ob er mir zürnt?«
»Wegen des Kindes? Hör auf damit! Philippe ist kein Narr. Er weiß, dass keine Mutter der Welt das Geschlecht ihres Kindes vorausbestimmen kann. Er schweigt, weil er zu tun hat. Nach dem Tod seines Vaters warten bestimmt unendlich viele Pflichten auf ihn.«
Jeanne versuchte, ihre Zweifel zu ignorieren, und vergaß sie im Laufe der nächsten Tage völlig. Nicht, weil Séverine sie überzeugt hatte, sondern weil sie keine Zeit fand, sich zu sorgen. Das Geduldsspiel, Blanche auf die neue Art mit Ziegenmilch zu füttern, nahm Stunden in
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