Turm der Lügen
nicht an, dass Ihr Eier und Butter für Euch beansprucht und scheffelweise feinstes Weizenmehl. Die Burg muss mit ihren Vorräten haushalten.«
Seit diesem Tag hatte sie Jeanne alle zusätzlichen Vergünstigungen überlassen. Ihre Schwester brauchte kräftigende Nahrung. Blanche die frische Ziegenmilch.
Für sich selbst nahm sie, wie die anderen Burgbewohner, nur die mageren Grütze-Portionen, in denen sich immer seltener ein paar Brocken Fleisch oder Rübenstücke befanden.
Inzwischen hatte man sogar die Milchkühe geschlachtet. Teils, um die Not zu lindern, teils, um das wenige Heu, das noch in den Scheunen lagerte, für die Streitrösser zu sparen, auf die weder der Hauptmann noch seine Ritter verzichten konnten.
Um das Leben der Ziege, die in ihrem Verschlag im Pferdestall von Séverine gemolken wurde, hatte es bereits heftige Auseinandersetzungen gegeben. Séverine hatte gesiegt, indem sie dem Hauptmann anbot, dafür die Pflege der Kranken zu beaufsichtigen und die Hustentränke aus Zwiebelschalen und Honig zu brauen, die seinen Männern Erleichterung verschafften. Sie hoffte inständig, dass Montgeron sein Wort hielt und Blanches Milchziege verschonte.
Als Séverine ins Freie trat, blinzelte sie im Widerschein des Schnees, obwohl es der Sonne nicht richtig gelang, die graue Wolkendecke zu durchbrechen. Der Ostwind fing sich eisig zwischen den Mauern und zerrte an ihren Kleidern. Julien tauchte an ihrer Seite auf.
»Ihr solltet nicht länger in dieser argen Kälte herumstehen. Geht in den Wohnturm zurück«, sagte er deutlich besorgter als sonst.
»Ich muss in die Küche«, widersprach Séverine und schlug die Richtung ein. »Hoffentlich ist noch ein Löffel von der Morgengrütze übrig.«
»Ich will sehen, was ich für Euch finde, und es in den Turm bringen. Lasst Euch den Weg abnehmen.«
Es lag etwas in seinem Drängen, das Séverine zu denken gab.
Julien wollte sie aus dem Weg haben. Warum?
Prüfend schaute sie über die Schneeberge hinweg, die zusammengeschoben worden waren, damit die Männer auch im Winter ihre Waffenübungen absolvieren konnten. Alles sah aus wie gewohnt. Das Fallgatter vor dem Eingangstor war herabgelassen. Seit die Menschen im Dorf hungerten, schützte sich die Burg auf diese Weise vor Bettlern und Dieben.
Séverine wusste, dass der Hauptmann einen Teil der Burgvorräte Pater Philémon überlassen hatte, damit er die Ärmsten unterstützen konnte. Dennoch fanden sich Tag für Tag zusätzlich hungernde Kinder und Frauen am Burgtor ein. Der Anblick der Verzweifelten setzte den Männern zu, aber der Hauptmann blieb hart. Mehr konnte er nicht tun, ohne das Leben seiner Bewaffneten zu riskieren.
Sie wollte sich eben abwenden, als ihr die Gruppe vor dem Pferdestall auffiel. Ein halbes Dutzend Männer stand um ein offenes Feuer, auf dem dampfend ein Wasserkessel brodelte.
»Nicht! Bitte nicht …«
Ohne sich um Juliens warnenden Ruf zu kümmern, raffte Séverine die Röcke und lief über den Hof. Es zog sie unwiderstehlich dorthin.
Sie drängte sich rücksichtslos zwischen die Männer, die ihr widerstandslos Platz machten. Man respektierte sie, da sie sich um die Kranken kümmerte und dumme Bemerkungen schlagfertig zu erwidern wusste.
»Ich hätte Euch den Anblick gern erspart.« Julien hatte sie erreicht.
»Welchen Anblick? «
Das Wort blieb ihr im Hals stecken. Unter Aufsicht des Burghauptmanns hatte man eines der Pferde geschlachtet. Der Kadaver lag im Schnee. Zwei Knechte waren dabei, das Tier zu zerteilen, dessen frisches Blut sorgsam mit Eimern aufgefangen worden war.
Natürlich war es keines der Schlachtrösser. Kein kostbarer Destrier, der einen Ritter in den Kampf trug. Nur ein Zelter, der die Passgangarten beherrschte, aber viel zu schwach für einen gerüsteten, bewaffneten Reiter war. Auch nicht zäh genug, damit ihn ein Bote bis zur Erschöpfung reiten konnte. Nur ein hübsches, nutzloses Reittier, lediglich geeignet für Damen und Geistliche. Eine graue Stute, die mit gebrochenen Augen blicklos zum Himmel starrte.
Marjolaine.
»Was habt ihr getan?«, stammelte sie fassungslos.
»Das Notwendige«, hörte sie den Hauptmann antworten. »Im Dorf schlachtet man bereits Hunde und Katzen. Wir können es uns nicht leisten, ein Pferd durchzufüttern, das uns keine Dienste leistet. Die Kranken brauchen kräftige Brühe und Fleisch, damit sie wieder genesen.«
In Séverines Ohren rauschte das Blut. Sie konnte den Blick von ihrer geliebten Stute nicht abwenden. Außer
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