Turm der Lügen
einem Zug hinuntergestürzt. Unmittelbar darauf hat er sich übergeben und vor Schmerzen gekrümmt.«
»Leibschmerzen sind ein altes Übel, das ihn seit Kindertagen heimsucht«, erklärte ihr wenig später Mahaut. Sie standen inmitten des Hofes. Niemand wagte zu gehen, ehe nicht Klarheit über den Gesundheitszustand des Königs bestand. »Ich bin sicher, es wird ihm schnell wieder bessergehen.«
»Dass ihn dieses Übel an einem solchen Freudentag heimsuchen muss, ist wirklich höchst bedauerlich«, mischte sich eine joviale Männerstimme ein.
Jeanne erkannte Valois. Belauschte er sie und ihre Mutter etwa? Sie entbot ihm eine knappe Reverenz und überließ es Mahaut, die richtige Antwort zu geben.
Sie machte keinen Hehl aus ihrer Verachtung. Für sie war Valois ein Versager.
»Was redet Ihr da von einem Freudentag?«
Valois genoss ihre offensichtliche Unwissenheit. Ihre Abneigung war gegenseitig, und dass sie sich inzwischen wieder mit solcher Selbstverständlichkeit bei Hofe zeigte, erbitterte ihn seit dem vergangenen Weihnachtsfest.
»Wie, Ihr habt es noch nicht vernommen? Die Königin ist in der Hoffnung. Die Hebammen sind sich einig. Sie wird zu Beginn des Novembermonats niederkommen. Ich zweifle nicht daran, dass sie einem kräftigen Thronfolger das Leben schenken wird. Seine Majestät wollte es sich nicht nehmen lassen, diese freudige Neuigkeit beim heutigen Festbankett offiziell bekanntzugeben.«
Unwillkürlich legte Jeanne die flache Hand auf den eigenen Leib. Noch fühlte sie keine Wölbung. Nur die sichere Gewissheit, dass auch in ihr neues Leben wuchs.
Mahaut bemerkte die Bewegung und zog die falschen Schlüsse.
»Kein Grund, sich zu grämen, Tochter. Auch du wirst wieder schwanger werden, wenn Philippe aus Lyon zurück ist. Dieses Konklave kann ja nicht ewig dauern.«
Jeanne senkte die Lider, um sich nicht zu verraten. Valois durfte nicht erfahren, was Philippe noch nicht einmal ahnte. Sie musste das Geheimnis wahren.
Das Erscheinen des königlichen Leibarztes beendete zum Glück das Gespräch. Seine langatmige Erklärung strotzte vor lateinischen Begriffen und unverständlichen Wendungen.
Eines konnte man ihr jedoch entnehmen. Die gelehrten Herren standen vor einem Rätsel. Das zu hastig getrunkene eiskalte Wasser war keine ausreichende Erklärung für die jähe Reaktion. Die Ärzte waren übereingekommen, dass der König geschont werden müsse.
An der besorgten Miene des Leibarztes ließ sich freilich erkennen, dass er wenig Hoffnung auf schnelle Besserung hegte.
»Sie sagen uns nicht die Wahrheit«, behauptete auch Mahaut, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wie weit ihre Stimme trug. »Es scheint ernster um den König zu stehen, als wir denken.«
»Das ist nicht der richtige Augenblick, solche Befürchtungen in die Welt zu setzen«, rügte sie Valois streng. »Nehmt Euch zusammen, Madame.«
Aber ihre Vermutung bestätigte sich schon nach kurzer Zeit. Der Zänker lag im Todeskampf. Der heitere Sommertag wurde jäh von dunklen Wolken verdüstert.
Valois eilte an das Lager des Königs. Charles von Marche war auf dem Ballplatz Zeuge von Louis’ Zusammenbruch geworden. Er wandte sich an den Onkel. »Wir müssen auch Philippe in Lyon benachrichtigen.«
»Der Bote ist bereits gesandt, ihn zu verständigen. Beruhige dich, Neffe. Überlasse alles mir«, erhielt er beschwichtigend zur Antwort.
Mahaut vernahm die Worte. Die Sorgenfalten auf ihrer Stirn vertieften sich. Priester, Ärzte und Familie sowie die Pairs des Königreiches drängten sich um den Alkoven.
Louis war erst sechsundzwanzig Jahre alt. Chaos und Entsetzen breiteten sich aus.
Clementias Schluchzen ging im Gemurmel der Gebete unter.
* * *
Der völlig unerwartete Tod des Königs lähmte das Leben in Vincennes. Jeder machte sich seine eigenen Gedanken. Sogar der Klatsch verstummte.
Der König war tot. Wer würde der neue König? Wer würde Frankreich regieren, bis der Knabe, den alle von Clementia erwarteten, die Krone tragen konnte? Ein Regent musste ernannt werden. Wer würde es werden? Vier Kandidaten kamen dafür in Frage. Charles von Valois oder Louis von Evreux, die Brüder Philippes des Schönen. Philippe von Poitiers oder Charles von Marche, die Brüder des Zänkers. Alle hatten das Recht, sich zur Wahl zu stellen, aber wer von ihnen würde die Mehrheit der Ratsstimmen erringen können? Fiel die Entscheidung wirklich zwischen Valois und Philippe, wie es die Gerüchte wissen wollten?
Auf der Stelle riss Valois nach
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