Turm der Lügen
dem Tod des Königs die Befehlsgewalt in Vincennes an sich. Er sorgte für die Beisetzung Louis’ in Saint Denis. Die Trauerbotschaften an die Verbündeten trugen allein seine Unterschrift. Er nahm sich auch der verzweifelten Clementia an, die kaum wusste, wie ihr geschah.
Und Philippe?
Philippe war nicht nach Vincennes zurückgekehrt, hatte auch nicht an der Beisetzung teilgenommen. Was war geschehen? Jeannes Sorgen wuchsen mit jedem Tag ohne Nachricht von ihm.
»Wo ist Jeanne?«
Mahaut platzte wie üblich ohne Gruß in das Gemach, in dem Séverine seit Stunden auf ihre Schwester Jeanne wartete. Erschreckt fuhr sie hoch. Sie war eingeschlafen. Die herabgebrannten Kerzen verrieten, dass der Morgen nicht mehr fern sein konnte.
Mahaut sah ungeduldig auf sie herab. Sie trug einen dunkelbraunen, einfachen Umhang, der auf den Schultern nass vom Regen war. Sie kam von draußen. Was trieb sie ins Freie bei dem Gewitter, das sich in dieser Nacht über Vincennes entlud?
»Jeanne ist bei der Königin«, erwiderte Séverine zögerlich.
Mahaut ließ ein Bündel Stoff auf den nächsten Stuhl fallen.
»Schick ihr eine Nachricht. Ich möchte sie augenblicklich sprechen.«
»Ich überbringe sie selbst«, bot Séverine an. »Dann geht es am schnellsten.«
Mahaut widersprach nicht.
»Spute dich«, befahl sie knapp.
Clementia trug die weißen Trauergewänder der Königinnen, ihre Locken und Wangen verschwanden unter einem strengen Leinengebände. Die ehemals strahlenden Augen waren stumpf. Sie weinte in ehrlicher Trauer um den Mann, mit dem ihr nur zehn Monate Ehe vergönnt waren. In den Gebeten für ihn fand sie Trost, und auch Jeannes Anwesenheit schien sie aufzurichten.
Séverine grüßte sie respektvoll, ehe sie leise an beide gewandt den Wunsch Mahauts vorbrachte.
Clementia nahm der zögernden Jeanne die Entscheidung ab. »Geht nur, Jeanne. Ihr dürft mich verlassen. Ich weiß zu schätzen, dass Ihr meine schlaflosen Stunden mit mir teilt, aber wir wollen nicht, dass Eure Mutter zu lange auf Euch warten muss.«
»Habt Dank für Euer Verständnis«, antwortete Jeanne und verließ sie mit Séveríne.
»Weißt du, was sie will?«, fragte sie gleich, nachdem sie die Königin verlassen hatten.
»Nein, aber sie scheint es ungewöhnlich eilig zu haben.«
Mahaut bestätigte Séverines Vermutung. Beim Anblick ihrer Töchter schoss sie vom Fenstersitz hoch.
»Endlich. Wechselt eure Kleider, schnell. Nichts Kostbares, Aufwendiges. Einfache Stoffe. Keinen Kopfputz. Darüber tragt ihr die Mäntel, die ich euch gebracht habe. Nehmt nur Wertsachen mit. Schmuck. Geld. Pergamente, die besser nicht zurückbleiben.«
»Was soll das, Mutter?« Jeanne machte keine Anstalten zu gehorchen.
Séverine hielt sich nicht mit Widerspruch auf. Sie erkannte, dass es zwecklos war. Sie holte Jeannes Schmuckschatulle aus den Tiefen der Kleidertruhe und kippte den Inhalt kurz entschlossen in ein dunkles Umschlagtuch.
»Wir müssen Vincennes verlassen, und zwar unbemerkt«, hörte sie Mahaut in ihrem Rücken erklären. »Valois versucht, seine Position zu festigen, indem er sich der Königin und ihres ungeborenen Kindes bemächtigt. Die Wachen haben den Befehl erhalten, kein Mitglied der Königsfamilie aus der Burg zu lassen. Wir sind Valois’ Geiseln. Er will die Regierungsgewalt an sich reißen.«
»Das kann er nicht. Er muss auf Philippe warten. Eine Entscheidung, wer zum Regenten ernannt wird, kann nur der große Rat treffen«, warf Jeanne ein.
»Aber Philippe ist noch nicht hier.«
»Das ist seltsam, ich weiß. Ich warte jeden Tag auf eine Botschaft von ihm.«
Mahaut warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. »Es muss einen Grund dafür geben, dass wir nichts von ihm hören.«
Jeanne vermutete das Schlimmste.
»Nein, nein. Wenn ihm etwas zugestoßen wäre, hätte uns eine Nachricht längst erreicht«, beruhigte sie Mahaut sofort. »Aber wir müssen uns auf der Stelle nach Paris in Sicherheit bringen. Valois traue ich nicht über den Weg. Er ist zu allem fähig.«
Das Tuch verknotend, lauschte Séverine und zollte Mahaut Respekt. Sie beurteilte die Lage wie ein Feldherr.
Jeanne nahm ihren ganzen Mut zusammen.
»Valois ist zwar machtgierig, aber ich glaube nicht, dass uns ernsthaft Gefahr von ihm droht.«
Séverine war anderer Meinung.
»Jeanne, ich denke, dass unsere Mutter die Lage richtig einschätzt. Auch du erwartest ein Kind. Es kann nicht in Valois’ Sinn sein, dass Philippe ausgerechnet zum jetzigen Zeitpunkt ebenfalls
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