Turm der Lügen
Séverine deutlich verstört. »Angst habe ich. Angst um dich. Du wärst in Dourdan bei der letzten Geburt fast gestorben.«
»Daran wollen wir nicht denken.« Jeanne winkte ab, als wären Séverines Ängste nur ein Hirngespinst. »Philippe einen Erben zu schenken ist mein dringlichster Wunsch. Unter besseren Umständen als in Vincennes könnte ich gar nicht niederkommen. Die erfahrensten Hebammen des Königreiches stehen bereit, Clementia zu helfen, sobald sie empfängt. Sie werden auch mir beistehen. Jetzt hat Vincennes doch etwas Gutes.«
»Willst du Philippe einen Kurier schicken oder wartest du auf seine Rückkehr?«
»Es soll unser Geheimnis bleiben, bis er wiederkommt.«
Jeanne versank in Gedanken.
In Lyon tagte das Konklave, die Wahlversammlung der Kardinäle, nach dem Tod von Papst Clemens V., um endlich einen neuen Papst zu wählen. Seit das erste Konklave vor zwei Jahren mit Waffengewalt gesprengt worden war, hatte die Kirche kein Oberhaupt mehr.
Dieses Mal setzte sich das Kardinalskollegium aus siebzehn Franzosen und nur sieben Italienern zusammen. Wahrscheinlich würde ein französischer Papst gewählt werden. Dennoch hatte Valois Louis geraten, einen Mann seines Vertrauens nach Lyon zu entsenden, damit das gewünschte Ergebnis auch tatsächlich in seinem Sinne zustande kam. Louis hatte Philippe gesandt. Dass sein Onkel ihn auf diese Weise vom Hofe entfernen wollte, um den eigenen Einfluss zu stärken, wusste er.
Jeanne erinnerte sich an ein Gespräch, in dem Philippe seine Ansicht der Dinge dargelegt hatte.
»Valois ist ein Narr«, hatte er ihr anvertraut. »Er weiß nicht, wie viel Einfluss ich erst haben werde, wenn der künftige Papst ein Mann
meines
Vertrauens ist.«
»Soll das heißen, du weißt bereits, wer es werden wird?«
»Alles deutet auf den Kardinal von Porto e Santa Rufina hin.«
»Das klingt aber nach einem Italiener.«
»Seine Eminenz wurde vor sechzig Jahren als Jacques Arnaud Duèze in Cahors geboren. Er ist so französisch wie du und ich.«
Ob Philippe dem erwünschten Erfolg inzwischen nähergekommen ist?
Jeanne sehnte sich schrecklich nach ihm. Sie wollte sein Gesicht sehen, wenn er aus ihrem Mund erfuhr, dass sie wieder schwanger war.
Jäher Tatendrang überkam sie. Ihre Trübsal war verflogen. Sie verspürte plötzlich Lust, sich unter die Damen des Hofes zu mischen. Sie würden auf dem Ballplatz sein. Louis und seine Gefährten gingen dort ihrem Lieblingssport nach. Er war ein leidenschaftlicher Ballspieler, und er schätzte es besonders, wenn Clementia und ihre Damen ihm Beifall spendeten.
»Steck mir die falschen Zöpfe und den neuen Kopfputz an«, bat sie Séverine energisch. »Ich werde mich Clementia anschließen.«
Jeanne hielt still, während Séverine die perlenbesteckten Nadeln plazierte. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, ihre nachwachsenden Locken mit falschen Haaren zu ergänzen, damit die Schleierhaube so saß, wie es die Mode dieses Sommers verlangte. Sie trug wieder kostbare Stoffe, aber ihre Gewänder durften nicht mit Borten und Juwelen überladen werden. Ihr Erscheinungsbild war stets elegant, aber doch bescheiden.
Mahaut war stolz auf ihre rehabilitierte Tochter. Artois konnte nicht verhindern, dass auch sie wieder bei Hofe ein und aus ging. Indem sie jedes politische Gespräch in der Öffentlichkeit mied, gab sie ihm keinen Anlass, sie neuerlich anzuschwärzen. Stattdessen spielte sie bei Clementia die Ersatzmutter. Clementia war zu wohlerzogen, um ihre Ratschläge abzulehnen, aber Jeanne ahnte, dass sie Mahaut mehr fürchtete als schätzte.
Séverine zupfte die letzten Schleierfalten in Form und trat zurück. »Fertig. Ich werde deine Damen hereinbitten, damit sie dich zum Ballplatz begleiten. Wenn du erlaubst, möchte ich gerne hierbleiben.«
»Es gibt keinen Grund für dich, die Öffentlichkeit zu meiden.«
»Es ist mein eigener Wunsch.«
Jeanne respektierte diesen Wunsch ihrer Schwester, auch wenn sie Séverines Zurückhaltung bedauerte. Lieber wäre sie mit ihr gegangen. Sie war mit ihren Damen noch auf dem Weg, als ihnen aufgeregte Höflinge entgegenstürzten.
»Platz für Seine Majestät. Platz für den König.«
Artois trug Louis auf den Armen. Der Zänker krümmte sich vor Schmerzen. Schweiß stand auf seiner bleichen Haut. Sein Wams war mit Erbrochenem beschmutzt.
»Was ist passiert?«, fragte Jeanne einen der Männer erschrocken.
»Der König hat nach dem Spiel einen Trunk kühlen Quellwassers verlangt und ihn in
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