Turm der Lügen
stand. Offensichtlich hatte niemand gewagt, Clementia mit den tragischen Einzelheiten des Skandals zu behelligen. Selbst Clementias Großmutter, Maria von Ungarn, die sie erzogen hatte, hatte wohl Schweigen bewahrt, um sie nicht zu beunruhigen. Was konnte Philippe ihr unter solchen Umständen antworten, ohne seinen Bruder zu verärgern, der in diesem Moment auf sie zukam?
»Es liegt nicht an mir, Jeanne die Rückkehr an den Hof nahezulegen, Majestät«, antwortete er respektvoll. »Ich muss Euch gestehen, dass sie einen verhängnisvollen Fehler gemacht hat. Deswegen hat sie sich schon vor langer Zeit den Zorn unseres Vaters zugezogen. Damals wurde sie vom Hof verbannt. Der König verstarb so plötzlich, dass er keine Gnade mehr walten lassen konnte.«
Louis hatte die Arme vor der Brust verschränkt und ließ Clementia nicht aus den Augen. Eine Ader klopfte an seiner Stirn, ein sicheres Zeichen seines Ärgers. Würde er einen seiner berüchtigten Wutanfälle bekommen?
Clementia schien das Warnzeichen nicht wahrzunehmen oder gar nicht zu kennen. Sie berührte sanft Louis’ Arm und lächelte ihn strahlend an.
»Mein liebster Herr«, sagte sie so innig, dass man zusehen konnte, wie sich Louis entspannte. »Ich habe in Euren Armen mein Glück gefunden. Es wäre mir eine Herzensfreude, wenn auch Euer Bruder einen Abglanz solchen Glückes erführe. Sicher bereut seine Frau ihren Fehler inzwischen von Herzen. Wollt Ihr Eurer Schwägerin nicht im Namen Eures verstorbenen Vaters Gnade erweisen und sie mit Philippe wieder in Ehren vereinen?«
»Meine Königin, Ihr seid ein Engel an Güte und Nächstenliebe«, sagte Philippe, ehe sein Bruder etwas erwidern konnte. »Louis kann sich glücklich schätzen, Euch an seiner Seite zu haben. Aber ich darf nicht zulassen, dass Ihr für Jeanne und mich so leidenschaftlich bittet. Alles hat sich zugetragen, ehe Ihr nach Frankreich kamt. Ihr dürft nicht damit belastet werden.«
»Aber nein! Sagt doch so etwas nicht.«
Wie Philippe vorausgesehen hatte, protestierte Clementia leidenschaftlich.
Er manipuliert die Königin, erkannte Adrien bewundernd, war es doch sein gutes Recht, mit allen Mitteln für Jeanne zu kämpfen.
»Seid barmherzig, liebster Herr«, fuhr Clementia indessen fort. »Die Gräfin von Poitiers könnte mir eine Schwester und Freundin sein, während Ihr Euren Pflichten nachgeht. Es ist einsam in diesem großen Palast, wenn Ihr nicht an meiner Seite seid. Gewährt mir den Trost weiblicher Gesellschaft. Es gibt nur wenig standesgemäße Gesellschaft in meinem Alter an unserem Hof.«
Louis räusperte sich und erfasste Clementias Hand.
»Wie Ihr wisst, kann ich Euch nichts abschlagen, Liebste«, sagte er mit belegter Stimme und begegnete Philippes ruhigem Blick. »Jeanne soll uns willkommen sein, wenn sie uns zur Weihnachtsmesse begleiten will. Wir wollen vergessen, was gewesen ist, weil es meine hochgeschätzte Königin erfreut.«
Philippe verneigte sich so tief vor seinem Bruder wie noch nie. Vielleicht auch, um seine Bewegung zu verbergen, die er kaum unterdrücken konnte.
Einsetzendes Getuschel verriet, dass die Neuigkeit in Windeseile die Runde machte.
»Wundervoll«, strahlte Clementia und hakte sich bei Louis ein. »Nun freue ich mich ganz besonders auf die Weihnachtszeit. Vielleicht kann uns Jeanne auch auf der anschließenden Reise durch das Königreich begleiten.«
Nicht einmal gegen diesen Plan erhob der Zänker Einspruch.
Adrien sah, wie Artois eine Grimasse zog. Valois schaute drein, als habe er Essig statt Wein getrunken. Er hatte dem König Clementia zur Heirat vorgeschlagen. Kamen ihm etwa Zweifel an der Klugheit seiner Wahl?
»Valois ist ganz und gar nicht mit der Entscheidung des Königs einverstanden«, warnte Adrien Philippe, als dieser am nächsten Morgen in aller Frühe einen Boten mit der freudigen Nachricht nach Gray schickte. »Er sieht seinen Einfluss schwinden.«
»Ich weiß.« Philippe bestätigte seine Vermutung. »Unser Onkel ist krank vor Machtgier. Seit er im Ringen um die Römisch-Deutsche Krone unterlegen ist, konzentrieren sich seine Bemühungen wieder ganz auf Frankreich.«
»Und er versteht seine Rivalen zu vernichten. Vergiss nicht, dass er Marigny an den Galgen gebracht und sich seines Vermögens bemächtigt hat. Die Freundlichkeit, die er dir vorgaukelt, ist reine Heuchelei. Er arbeitet daran, deine Position beim König zu schwächen.«
»Das wird ihm nicht gelingen. Er wird am Ende nichts als Ruhmlosigkeit und
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