Turm der Lügen
Schulden hinterlassen«, prophezeite Philippe. »Früher oder später wird er mit Louis aneinandergeraten. Clementia kann ihn nicht ausstehen, und mein Bruder hört auf sie. Das lässt mich für unsere Zukunft hoffen.«
»Und was wird aus Blanche, der Gräfin von Marche?«
»Sie ist verloren. Zum einen ist ihr Ehebruch klar bewiesen, zum anderen hat ihr Betrug meinen Bruder Charles an seinem empfindlichsten Punkt getroffen, an seiner Eitelkeit. Ihr doppeltes Unglück ist, dass Valois niemals dulden kann, dass sie die Freiheit wiedersieht. Wer weiß, was sie von dem Mord an Marguerite mitbekommen hat. Im Kerker ist sie sowohl zum Schweigen verurteilt wie dazu gezwungen.«
»Ist das Gerechtigkeit?«
»Es ist die Gerechtigkeit der Macht.«
* * *
Mitten im Wald von Vincennes lag der königliche Herrschaftssitz.
Eine schier endlose Mauer umgab die wehrhafte Burganlage. Sie schützte das königliche Jagdrevier ebenso wie die Burg, deren zahllose Türme weit über die Baumwipfel hinausragten.
Seit Louis den Herrensitz Clementia geschenkt hatte, war er zum Mittelpunkt des Königreiches geworden. Standarten flatterten auf seinen Zinnen, ständiges Kommen und Gehen dröhnte über die schweren Eichenbohlen der herabgelassenen Zugbrücke.
Clementia residierte am liebsten in Vincennes. Louis eilte an ihre Seite, sobald die Staatsgeschäfte es zuließen. Der Palast in Paris stand immer öfter leer. Die Seidenhändler in der Galerie klagten über Umsatzeinbußen, und die Bürger der Stadt wunderten sich längst über die fremde Königin, die ihre Stadt mied.
Jeanne war jeder einzelne Tag in dieser Umgebung zuwider. Daran konnten weder die prächtig ausgestatteten Gemächer noch die Liebenswürdigkeit Clementias etwas ändern.
»Es kommt mir vor, als wäre ich wieder in Dourdan eingesperrt«, beschwerte sie sich auch heute bei Séverine. »Überall diese schrecklichen, düsteren Tannen. Wohin man sieht, Bäume. Warum können wir nicht in Paris leben? Ich sehne mich nach meinem Haus und nach meinen Kindern. Wer weiß, wie es ihnen ohne uns geht.«
»Unter Jacquemines Obhut bestimmt gut. Es tut mir ebenfalls leid, dass sie nicht mit uns hier sein können. Aber seitdem Blanche gelernt hat, von einem Löffel zu essen, musst du dir auch um sie keine Sorgen mehr machen. In der Stadt ist es heute vermutlich heiß und stickig. Hast du vergessen, wie der Unrat in den Gassen riecht, wenn die Sonne darauf brennt? Oder der Schlick am Seine-Ufer?«
Séverine tat ihr Möglichstes, Jeanne die Vorteile der königlichen Residenz schmackhaft zu machen. Jeanne war schon seit Tagen gereizt und ungeduldig. So launisch kannte sie sie gar nicht.
»Ich ziehe die städtische schlechte Luft der Einöde vor«, behauptete sie missgestimmt. »Clementia sitzt den lieben langen Tag da, stickt und lässt sich Heiligenlegenden vorlesen. Sie spricht kaum. Sie interessiert sich für nichts. Weder für Mode noch für Juwelen, nicht für Musik. Sie mag keine Politik, keinen Klatsch, keine Spiele. Sie stickt und wartet darauf, dass die Zeit vergeht und sie schwanger wird. Wenn sie wirklich einmal etwas von sich gibt, ist es ein Loblied auf den Zänker. Ihre Zuneigung macht sie blind für seine schlechten Eigenschaften.«
Jeanne brach ab und seufzte schuldbewusst. »Ich bin ungerecht, ich weiß. Ich werde Pater Philémon meine Sünde beichten müssen.«
Sie sah nachdenklich in das polierte Silberrund des Spiegels. Sie fand nichts auszusetzen an ihrem Bild. Leicht gerötete Wangen, leuchtende Augen, die Lippen rosig durchblutet. Sie sah blühend aus, gesund und voller Erwartung. Seit sie wieder bei Hofe empfangen wurde, schenkte sie ihrem Aussehen kritische Aufmerksamkeit. Sie hatte sich verändert.
»Das ist es!« Jeanne fuhr so unverhofft zu Séverine herum, dass diese erschrocken zurückwich. »Jetzt weiß ich es. Ich bin wieder schwanger. Es muss in Sens oder in den Tagen davor passiert sein. Seit Sens haben wir nicht mehr zusammengelegen, weil der König Philippe nach Lyon geschickt hat. Viel zu lange ist meine Mondzeit schon überfällig. Ich verspüre keine Übelkeiten und habe deswegen nicht darauf geachtet. Lass mich rechnen. Das bedeutet eine Geburt spätestens um Mariä Verkündigung, vielleicht auch früher …«
Séverine starrte sie an.
»Was ist mir dir? Freust du dich nicht? Diesmal wird es bestimmt ein Sohn. Philippe wird überglücklich sein.« Jeanne redete wie aufgezogen.
»Du fragst mich, was mit mir ist?«, stammelte
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