Turm der Lügen
Was ist, wenn Philippe nicht einverstanden ist, dass wir die Burg in aller Heimlichkeit verlassen?«
»Jeanne hör auf, er weiß nicht, dass du schwanger bist. Er weiß nicht, dass die Königin schwanger ist. Er weiß nicht, mit welcher Rücksichtslosigkeit Valois die Macht an sich gerissen hat in Vincennes. Es gibt Situationen, da muss man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Er ist nicht da, wir können ihn nicht fragen. Mit Sicherheit weiß Philippe, dass sein Bruder tot ist. Dieser Umstand zwingt ihn zum eiligen Handeln, ob wir nun in Vincennes sind oder in Paris. Je weniger er sich um uns sorgen muss, umso lieber wird es ihm sein.«
»Woher nimmst du die Zuversicht?«, wunderte sich Jeanne. »Hat dir Adrien etwa etwas über Philippes Pläne verraten?«
»Ich habe Adrien seit Wochen nicht gesehen. Er ist mit Philippe in Lyon, und Julien begleitet ihn.«
»Hoho … Brrrrr …«
Das Fuhrwerk kam zum Stillstand. Mahaut steckte ihren Kopf unter die Plane.
»Auf, auf, ihr Mädchen. Wir werden erwartet.«
Steifgefroren und etwas mühsam kletterten sie vom Karren herunter. Ein Regenbogen stieg am Waldrand auf und senkte sich in der Ferne auf die Seine. Das Gewitter war endlich vorbei. In den Pfützen glänzte der Widerschein der aufgehenden Sonne.
Geschützt von Buschwerk, wartete ein Reisewagen ohne Wappen. Auch die Pferdegeschirre waren schlicht und ohne schmückende Symbole.
»Wohin bringt Ihr uns?«, fragte Séverine.
»In das Palais Artois«, entgegnete Mahaut erst, als sie im Wagen saßen. »Die Wachmannschaft, das Gesinde und meine Frauen sind absolut verlässlich.«
»Ich habe ein eigenes Haus in der Stadt. Ich will nach Hause«, erhob Jeanne Einspruch.
»Solange Philippe sich nicht um deine Sicherheit kümmert, bleibst du bei mir. Basta. Mein Leibarzt wird sich deiner annehmen.«
Mahaut lehnte sich zurück. Sie war der Meinung, alles Wichtige gesagt zu haben.
Séverine merkte ihr an, dass auch sie erschöpft war und fror. Sie sah sich um und entdeckte die trockenen Mäntel, die in einer Ecke auf der Bank bereitlagen. Wer immer diese Flucht für Mahaut organisiert hatte, er hatte an alles gedacht.
Weder Jeanne noch ihre Mutter hatte die Kleidungsstücke bemerkt. Séverine hielt sich an einer Lederschlaufe fest, stand im rumpelnden Wagen auf und schüttelte den ersten Umhang auf. Sie legte ihn Mahaut um die Schultern, danach versorgte sie Jeanne. Lavendel- und Kampferduft überlagerte den Unrat-Gestank.
Mahaut öffnete blinzelnd die Augen.
»Erst Krieger und nun barmherziger Samariter. Du wirst eine prächtige Herrin für ein großes Lehen abgeben.«
Faucheville.
Sie hatte schon lange nicht mehr an Faucheville gedacht. Zu viel war geschehen. Aber auf einmal tauchten das Lehen und seine Bewohner in solcher Klarheit vor ihr auf, dass ihr die Kehle eng wurde. Ihre Augen brannten, Tränen flossen unaufhaltsam.
»Was ist mir dir? Warum weinst du?«
»Ihr täuscht Euch. Es geht mir gut.«
Mahaut schwieg, doch ihr Blick war voller Verständnis.
Séverine war überrascht, so viel Mitgefühl hätte sie ihr nicht zugetraut. War etwa auch diese Flucht selbstlos?
Sie war zu müde, um darüber nachzudenken. Zu müde auch, um sich darüber zu freuen, dass sie das Stadttor von Paris erreichten, ohne aufgehalten worden zu sein.
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Neunzehntes Kapitel
D ie Nachricht des Eilkuriers erreichte Philippe in Lyon und veranlasste ihn, neue Pläne zu machen. Mit einem kühnen Handstreich beraubte er die versammelten Kardinäle ihrer Freiheit. Erst wenn sie den von ihm gewünschten Kandidaten zum Papst wählten, würden sie wieder ihrer Wege gehen können. Jacques Arnaud Duèze mochte ein Greis sein, aber er war auch ein Fuchs. Mit ihm als Pontifex blieb gewährleistet, dass der Papst auch weiterhin in Avignon residierte. Ein französischer Papst, der die Interessen des Königshauses, und damit seine, vertrat.
Auf seinem darauffolgenden Gewaltritt von Lyon nach Paris wurde Philippe von Adrien begleitet. Es gelang ihnen, Valois, der sie mit Charles und seinen Anhängern in Fontainebleau erwartete, zu entwischen. Sie überraschten ihn damit, dass sie noch in der Nacht nach Paris ritten.
Während Valois sich in Fontainebleau den Schlaf aus den Augen rieb, versammelte Philippe schon die ehemaligen Minister und Mitarbeiter seines Vaters um sich. Auch Louis von Evreux, der jüngste Bruder seines Vaters, war unter ihnen. Er hatte sich gegen den eigenen Bruder gewandt und auf Philippes Seite geschlagen.
Die
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