Turm der Lügen
Brand erloschen war, konnte man kaum noch Überreste des päpstlichen Leichnams finden.«
Niemand sprach. In allen Mienen stand dasselbe Entsetzen. Papst Clemens war, wie sein Widersacher, der Großmeister der Templer, ein Opfer des Feuers geworden.
»Gottes Wille ist unerforschlich«, hauchte Jeanne und faltete die Hände zum Gebet.
Séverine empfand keine Trauer. Tief in ihr gründete der Glaube, dass alles nach Gottes Willen geschieht. Sie ahnte, dass die Ereignisse die abergläubische Furcht des Volkes weiter schüren würden. Schon die nahezu heimliche, eilige Hinrichtung des Großmeisters hatte die Menschen aufgewühlt. Wetterwendisch wandte sich ihr Wohlwollen vom König ab und den Templern zu. In den Augen der Menschen auf der Straße hatten König und Papst sich zu Komplizen in einer himmelschreienden Ungerechtigkeit gemacht.
»Wie hat der König die Neuigkeiten aufgenommen?«, fragte Jeanne beunruhigt ihren Mann.
»Nach außen hin ungerührt«, antwortete er langsam. »Unser Vater verachtet Aberglauben und Geschwätz. Er wird nicht einen Schritt von seinem Weg abweichen. Seine Pläne bleiben unverändert bestehen. In zwei Tagen brechen wir nach Clermont auf, um dort unsere Schwester, die Königin von England, zu empfangen.«
Isabelles Besuch war seit dem vergangenen Jahr abgesprochen. Philippe sollte die Schwester gemeinsam mit seinem Onkel, Charles von Valois, dem jüngeren Bruder des Königs, in Clermont empfangen. Von dort aus wollte sich die Reisegesellschaft nach Pontoise begeben, wo auch der König und der Rest des Hofes in Schloss Maubuisson zu ihnen stoßen würden. Isabelle erhoffte sich mehr politische und menschliche Unterstützung vom Vater.
Ihr Gemahl, Edward Plantagenet, blieb in England. Seit Isabelle ihm einen Sohn und Erben geschenkt hatte, interessierte er sich kaum noch für sie. Machtlos und gekränkt war sie seinen Demütigungen ausgeliefert. Vergeblich kämpfte sie darum, ihre Position gegen die wechselnden Günstlinge ihres Mannes zu stärken. Baron Despenser, der im Augenblick den König beherrschte, bereicherte sich maßlos auf ihre Kosten.
Séverine vernahm Jeannes heimlichen Seufzer. Sie verspürte nicht die geringste Lust, die Landstraßen des Königreiches gegen ihr luxuriöses Zuhause einzutauschen. Im Übrigen empfand sie keine große Sympathie für die englische Königin, die durch ihr Schicksal hart und ungerecht geworden war. Kurz hatte Jeanne wohl gehofft, die Reise würde aus Gründen der Staatstrauer um den Heiligen Vater abgesagt werden.
»Wir schulden unserer Schwester die Höflichkeit unseres Besuches«, fügte Philippe eine Spur strenger hinzu. Auch er ahnte, was in Jeanne vorging. »Ich erwarte, dass du meine Schwester in Clermont freundlich empfängst.«
Der Appell kam einem Befehl gleich. Das rigorose Regiment ihrer Mutter hatte Jeanne zu einer Frau gemacht, die ihrem Gemahl widerspruchslos gehorchte. Jeder konnte spüren, dass die beiden sich mochten, aber Jeannes Verhältnis zu ihrem Mann war von Ehrfurcht geprägt. Nie kam es zu einer Auseinandersetzung.
»Es wird alles in Eurem Sinne geschehen.« Jeanne lächelte Philippe an. »Wollt Ihr nicht heute bei uns bleiben? Ein wenig Zerstreuung und Ruhe würden Euch guttun.«
Angestrengte Falten standen auf Philippes Stirn. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen.
»Das ist leider nicht möglich«, lehnte er Jeannes Wunsch ab. »Der Rat seiner Majestät tritt in einer Stunde wieder zusammen. Man erwartet mich im Palast.«
»Kann der König nicht einmal auf Euch verzichten?«
»Damit Louis und Charles sich mit unserem Onkel Valois zusammentun und weitere Steuererhöhungen durchsetzen, um einen Feldzug gegen Flandern zu finanzieren? Da sei Gott vor! Wenn das Königreich etwas braucht, dann ist das nach den letzten Ereignissen Frieden. Unsere Bürger brauchen ihre Kraft, um Wirtschaft und Handel zu stabilisieren. Ein Feldzug würde ihre Bemühungen erneut zunichte machen. Hinzu kommt, dass die letzten Ernten schlecht ausgefallen sind. Auch die diesjährige Frühjahrsaussaat verzögert sich durch die ununterbrochenen Regenfälle. Wovon sollten die Menschen die Steuern zahlen?«
Séverine bewunderte sein einfühlsames Urteil. Sie erinnerte sich an Faucheville. Dort hatten sie sehr unter den Missernten der letzten zwei Jahre gelitten und sich vom König im Stich gelassen gefühlt.
Ein Krieg gegen Flandern erschloss sich ihr ohnehin nicht. Wenn Philippe König werden würde, würde es allen Menschen sicher
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