Turm der Lügen
gemacht, man gehe auf eine Reise ohne Rückkehr. Dass Jacquemine dann nicht mitreiste, machte sie traurig. Sie wusste, sie würde ihren Rat und ihre Hilfe vermissen, aber ihr Alter und ihre Korpulenz wären sicher eine zu große Strapaze für sie gewesen. Zudem verließ Jeanne ihre Töchter nur, wenn sie sie in ihrer Obhut wusste.
Der Zug hatte Paris nach der Morgenmesse verlassen, aber die Strecke nach Pontoise, die ein Reiter auf einem schnellen Pferd in einem halben Tag hinter sich bringen konnte, wurde im Wagen endlos. Das Geplauder ihrer Begleiterinnen war längst verstummt. Lediglich die Geräusche der Räder, das Getrappel der Pferde und die vereinzelten Rufe der Begleitmannschaften waren zu hören.
Als ihre Mitreisenden eingeschlafen waren, schob Séverine den Vorhang zur Seite.
Neben der Landstraße erstreckten sich jetzt Äcker, Wiesen und Buschgruppen. Die Menschen, die auf den Feldern arbeiteten, beobachteten den Reisezug misstrauisch aus sicherer Entfernung. Obwohl die Standartenträger und Herolde verrieten, dass der König über Land zog, galt ihm kein Hochruf und kein Gruß.
Zwischen Philippe dem Schönen und seinem Volk klaffte ein tiefer Graben. Seine Verfügungen, seine Steuererlasse, seine Manipulationen am Münzrecht hatten ihm vielleicht Gold in die Truhen gespült, ihn aber auch um die Liebe seiner Untertanen gebracht.
Séverine nickte über ihren Gedanken ein. Als der Reisewagen in eine tiefe Rinne polterte, schrak sie auf und wusste nicht, wie ihr geschah. Mit den anderen Hofdamen zusammen wurde sie von der Bank geschleudert. Der Wagen kippte langsam und schwerfällig. Persönliche Gegenstände wie Riechflakons und Rosenkränze flogen durch die Gegend. Ein Fuß traf Séverines Kopf, ein Ellbogen bohrte sich ihr in den Magen. Sie konnte kaum mehr atmen, eine der Hofdamen lag auf ihrem Brustkorb. Rote Kreise zerplatzten vor ihren Augen. Ein scharfer Gegenstand kratzte über ihre Wange und hinterließ einen stechenden Schmerz.
Sie war die Letzte, die aus dem umgestürzten Wagen geborgen wurde. Die Räder auf der rechten Seite waren gebrochen, das Gehäuse lag schräg im Straßengraben. Ihre Mitreisenden hockten bleich vor Schreck am Wegrand und suchten nach Verletzungen. Sie klagten über Platzwunden, über schmerzende Glieder und zerrissene Kleider. Ernsthaften Schaden schien jedoch niemand davongetragen zu haben.
Séverine betastete prüfend ihre Wange. Sie brannte wie Feuer. An ihren Fingern hatte sie Blut.
»Ihr seid verletzt.«
Die Stimme überschlug sich auf vertraute Weise. Julien hatte sie, gemeinsam mit anderen Helfern, aus den Trümmern des Wagens befreit. Erst jetzt erkannte sie ihn.
»Ein kleiner Riss, nicht der Rede wert«, stammelte sie. Obwohl die Wunde heftig blutete, konnte sie nur einen oberflächlichen Kratzer spüren. »Ich hatte Glück …«
»Da habt Ihr recht«, brummte der Kriegsknecht, der die Rettungsaktion befehligte. Er deutete auf eine leblose Gestalt, die im Straßenstaub lag. »Euer Kutscher hatte keinen solchen Schutzengel. Er hat sich das Genick gebrochen, als er vom Bock geschleudert wurde. Ein Segen, dass die Pferde nicht durchgegangen sind. Allerdings könnt Ihr in diesem Wagen Eure Fahrt nicht fortsetzen.«
»Das ist ja furchtbar«, bedauerte Séverine den Tod des Kutschers. Dass aber der schreckliche Wagen nicht mehr fahrtüchtig war, war ihr keine Träne wert. Keine zehn Pferde hätten sie zurück in das Ungetüm gebracht. Lieber ging sie zu Fuß nach Pontoise.
Die erste Aufregung hatte sich gelegt. Die Männer räumten die Landstraße und zogen die Reste des Kastenwagens zur Seite, damit der übrige Tross seinen Weg fortsetzen konnte. Séverine wandte sich an Julien, ohne sich um das Gejammer der anderen zu kümmern.
»Ist es vielleicht möglich, ein Pferd zu bekommen?«, fragte sie ihn ohne Umstände.
»Ihr wollt reiten? In diesem Zustand und ohne Damensattel?«
»Was zum Donnerwetter ist hier geschehen?«
Adrien parierte sein Ross aus vollem Galopp und sprang mit einem Satz aus dem Sattel. Er griff nach Séverines Kinn und drehte ihr den Kopf zur Seite, um die Verletzung in Augenschein zu nehmen.
»Wie ist das passiert?«
»Ich weiß es nicht, es ging alles so plötzlich.«
Die Frauen hatten sich unterdessen aufgerappelt und scharten sich um Adrien. Er war der erste Edelmann, der den Eindruck machte, er könne ihnen helfen. Alle redeten durcheinander. Wie sollte es weitergehen? Sie konnten unmöglich zu Fuß die restliche Strecke
Weitere Kostenlose Bücher